Gewirkte Bilder. Ein Gastbeitrag von Katalin Nagy

Texturen, Textiles und Transkulturelles stehen auch im Forum von Der fremde Faden im Mittelpunkt. Kontroverse Perspektiven bekommen hier einen Ort.

Altamerikanistin und Textilhistorikerin Katalin Nagy verortet in ihrem Beitrag die Bildwirk-Technik sowohl historisch wie sozial und beschreibt detailliert die künstlerische Entwicklung der Bildwirkerin Andrea Milde, deren Projekte ich mit dem Artikel Die Könnerin einer fast vergessenen Kulturtechnik vorstelle.

 

Andrea Milde bei einer Führung durch die Ausstellung vor ihrem neuesten Werk von 2017 mit dem Arbeitstitel „Dualidad“. © Katalin Nagy

 

Die Tapisseriearbeiten von Andrea Milde 

Eine Ausstellungsbesprechung

 

Prolog

 

Das Arbeiten mit verschiedenen Materialien, ob Papier, Holz, Leder oder Eisen ist immer wieder faszinierend. Auch wenn in unserem modernen Zeitalter Apps und intelligente Geräte das Leben verändern, dürfen wir nicht vergessen, dass wir zwei Hände haben, die durch das Greifen und Bearbeiten von Materialien zu dem geworden sind, was sie sind. Darum ist es nicht verwunderlich, wenn viele Menschen die Freude am Handwerk immer wieder für sich entdecken. Fäden ermöglichen durch ihre große Flexibilität fast unbegrenzte Formgebung und sie können in unzähligen Farben erscheinen, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Aber es ist auch ein Handwerk, das erlernt werden muss, mit all seinen Regeln. Beherrscht man dann die Arbeit mit den bunten Fäden, fühlt es sich zuweilen an, als habe man die ganze Welt in der Hand. Die Künstlerin Andrea Milde hat für ihre Arbeiten diese bunten Fäden als Material gewählt und als handwerkliche Technik die Tapisserie.

 

Bildwirkerei – Die Tapisserien der Ausstellung Nach Strich und Faden 

 

In der Ausstellung im Museum Pankow findet sich der Betrachter vor Bildern wieder, die aus der Entfernung wie Gemälde wirken. Erst wenn man sich nähert, fällt einem auf, dass sie gewebt sind. Wollte man genau sein, müsste man sagen, dass sie nicht gewebt, sondern gewirkt sind. Man nennt sie Bildwirkereien oder Tapisserien. Die Technik der Bildwirkerei ist ein altes Handwerk und unterliegt strengen Regeln.

Diese Textiltechnik wurde schon im Altertum angewandt. Anhand von archäologischen Textilien konnte nachgewiesen werden, dass sie nicht nur in Ägypten in der spätantiken Kultur der Kopten, sondern auch in Südamerika in den alten peruanischen Kulturen für das Herstellen von Geweben mit farbigen Motiven und bildhaften Darstellungen verwendet wurde.

In Europa waren die gewirkten Bilder im Mittelalter und in der Renaissance über Jahrhunderte lang Schmuck von Burgen und Schlössern und Stolz von wohlhabenden Herrschern. Die Wände der Paläste wurden mit zahlreichen riesigen Bildwirkereien behängt. Diese dienten nicht nur als Schmuck, sondern auch der Wärme- und Geräuschdämmung. Auch auf öffentlichen Plätzen wurden sie gezeigt. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, aber besonders im 15. Jahrhundert erlangte der Handel mit Tapisserien und dadurch auch ihre Herstellung immer mehr an Bedeutung, sie galten als Luxusgüter. In den Niederlanden, in Burgund (Frankreich) und Kastilien (Spanien) gehörten sie bald zu den wichtigsten und luxuriösen Einrichtungsgegenständen der herrschaftlichen Höfe. Dargestellt wurden gerne Themen aus dem Alten und Neuem Testament oder Szenen aus der antiken Mythologie. Betrachtet man das gesamte Bild, so fällt auf, dass es nicht selten in mehrere Felder unterteilt ist, oder sich die Erzählung über mehrere Teppiche erstreckt, die eine thematisch abgeschlossene Serie bilden. Vordergrund und Hintergrund des Bildes repräsentieren die Gegenwart und die Vergangenheit, die nebeneinander auf der Bildoberfläche erscheinen. Diese Aufteilung der Zeitebenen des traditionellen Bildaufbaus finden wir auch bei den Arbeiten der Künstlerin Andrea Milde immer wieder. Am offensichtlichsten ist dies bei den Collagen, die den Besucher gleich am Eingang zur Ausstellung erwarten, doch auch bei den späteren Werken fehlt sie nicht. Allerdings bedarf es der Zeit, und der Bereitschaft des Betrachters, sich auf diese Entdeckungsreise zu begeben.

Andrea Milde hat mit einem Stipendium ihre künstlerische und handwerkliche Ausbildung an einer der drei staatlichen Schulen für traditionelle Bildwirkerei, an der École Nationale d´Art Décoratif, in Aubusson, Frankreich absolviert. Diese kleine Stadt im Herzen Frankreichs blickt auf eine lange Traditition der Bildwirkerei zurück. Ihre Tapisserie-Manufakturen sind weltberühmt und belieferten einst den französischen Königshof.

Die Künstlerin bewegt sich in verschiedenen europäischen Lebensräumen. Obwohl ihre Arbeiten einen klaren Bezug zu konkreten regionalen Kontexten aufweisen (spanisches Stadt- und Landleben), ist es die Nähe zu den Menschen, zu ihren Schicksalen und zu ihrer Zukunft, die immer im Mittelpunkt steht, und die die Werke über ihre geographische Verortung hinaus dem großen Publikum zugänglich macht.

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Technik

 

„Weberei und Wirkerei sind wie Schwestern“ – sagt Andrea Milde. Beide bedienen sich zweier Elemente: Kette und Schuss. Die Kettfäden werden in regelmäßigen Abständen voneinander gespannt. Das grundlegende Prinzip der Weberei ist einfach, so einfach, das selbst kleine Kinder es nachahmen können: im stets abwechselnden Drunter und Drüber wird der Schussfaden auf dem Hinweg in die Kette eingelegt; desgleichen auf dem Rückweg, nur in der entgegengesetzten Reihenfolge, so dass alle Fäden sich kreuzen. Der leere Raum zwischen der vertikal laufenden Kette wird mit den Schussfäden gefüllt. Beim Weben von Stoffen läuft der Schussfaden von einer Kante bis zur anderen.

Im Unterschied dazu besteht das gewirkte (und nicht das wie so oft gesagt wird, das „gewebte“) Bild aus Farbflächen, die durch die bunten Schussfäden gebildet werden. Dabei werden die Schussfäden entsprechend des Bildmotives innerhalb der Grenze „ihrer“ Farbflächen zwischen die Kettfäden gelegt. „Der Raum wird aufgebaut“ – wie Andrea Milde es selber sagt. Die Schussfäden verlaufen dicht nebeneinander, verdecken die Kettfäden vollkommen und bilden letztendlich eine geschlossene Oberfläche. Spannend wird es an den Grenzen aneinander stoßender Farbflächen. Für den Farbwechsel und das Vermeiden von Schlitzen gibt es, wie bei jedem Handwerk, technische Lösungen, die in der Ausbildung erlernt werden. Dieser Unterschied ist die Grundlage der Herstellung der figurativen und bildhaften Fläche. Ein gewirktes Bild kann deshalb nur manuell angefertigt werden, und eben aus diesem Grund ist der Prozess der Wirkerei sehr zeitintensiv.

 

Die Inspiration: Carrión de los Condes, Nordspanien. Detail © Andrea Milde

 

Die Entstehung der gewirkten Bilder ist ein langer Prozess und besteht aus mehreren voneinander klar getrennten Schritten, die früher von unterschiedlichen Meistern nacheinander ausgeführt wurden. Am Anfang stand der Maler, er erdachte und malte das Bild, das wiederum von dem sogenannten Kartonier „übersetzt“ werden musste, um die bunten Felder, aus denen letztendlich das gewebte Bild entsteht, auf einen Karton festzulegen. Erst danach kamen die Weberinnen oder Weber zum Zuge. Früher, als ganze Wände großer Säle in Burgen behängt wurden, waren die Bilder so breit, bzw. hoch, dass an einem Stück mehrere Weber oder Weberinnen gleichzeitig Schulter an Schulter gearbeitet haben.

 

Die Vorlage als Gemälde. Detail. © Katalin Nagy

 

Andrea Milde macht alle diese Schritte selber. Sie konzipiert und malt die Vorlage des zu webenden Bildes. Denn auch wenn sie für das Erstellen ihrer Bilder die Wirkerei wählte, ihre künstlerischen und visuellen Grundlagen liegen in der Malerei. Sie malt, sie malt sogar sehr gerne. Danach stellt sie den sogenannten Karton her, der als gezeichnete Vorlage hinter den Kettfäden befestigt wird, und während des ganzen Webprozesses dort bleibt. Ohne ihn fängt sie gar nicht erst mit dem Weben an.

 

Der gezeichnete Karton, der hinter der Webarbeit als Vorlage zu liegen kommt. Detail. © Katalin Nagy

 

Fertig sind ihre Bilder erst dann, wenn sie vom Webstuhl abgenommen worden sind. Bei einer größeren Bildwirkerei sieht die Künstlerin während des ganzen Prozesses der Entstehung einer Tapisserie immer nur einen schmalen Streifen der Bildfläche, sie muss sich immer auf den vorbereiteten Karton verlassen. Beim Malen sind die Grenzen der Farbflächen flexibel, man kann verändern, übermalen. Diese Möglichkeit besteht bei der Wirkerei nicht. Die Grenzen der gewebten Farbflächen sind nicht mehr veränderbar, sie sind fest gewebt.

 

Das fertig gewebte Bild. „2017“. Detail. © Katalin Nagy

 

Erste Werkphase: Die Collagen

 

Andrea Milde versucht, wie eine Fotografin, die „ganze Welt“ in einem Bild zu erfassen. Da dies aber nicht möglich ist, nimmt sie kleine Stücke, Fragmente, wie zerrissene Fotos und setzt die Teile neu zusammen. So sind auch ihre Collagen aufgebaut.

 

Collage, 1987.  135 x 105 cm, Kette aus Baumwolle: 5 Fäden/cm, Schussfäden in gefärbter Wolle und Jutefasern. © Katalin Nagy

Die allererste Arbeit, die in Spanien, ihrer neu gewählten Heimat entstand, ist thematisch sehr modern und zugleich sehr historisch. Damals lebte sie in Madrid, aber ebenso gut hätte es das Berlin der 80er Jahre sein können. Das Bild erinnert an eine dick mit mehreren Schichten von Plakaten beklebte Hauswand. Jede Schicht, ein Plakat; jedes Plakat ein bestimmter Tag im Kalender.

 

„Gerissene Kanten“ gebildet aus Jutefasern. Detail. Collage, 1989. © Katalin Nagy

 

So bekommt das zweidimensionale Bild eine zeitliche Tiefe, es wird in die dritte Dimension geführt. Das Neue ist nur so lange aktuell, bis es überklebt wird. Die krustenartigen Abrisskanten der aufeinander geklebten Plakate zeigen den Verlauf der Zeit und werden durch besonders faseriges Material, z.B. ungesponnene Jute, betont. Diese Risslinien sind typisch für die Collagen. Was bleibt, ist die Veränderung.

 

Tigresa, 1990. 131 x 93 cm, Kette: 5 Fäden/cm, Schussfäden in gefärbter Wolle und Jutefasern. © Katalin Nagy

 

Faszinierend, wie Andrea Milde die Welt, die eigene und die fremde, wahrnimmt und bunt und unübersehbar kraftvoll wiedergibt! Einfach alles sehen wir in den Collagen aus den Jahren zwischen 1985 und 1990: die Natur, Tiere, Pflanzen und Früchte; wir sehen einzelne Buchstaben und Schriftzüge, die uns vertraut sind oder fremd anmuten; wir sehen Politik und Kultur, Demonstration und Tangoabend;  bedruckte und gemusterte Textilien werden ebenso dargestellt, wie Kalligraphie und Graffitis, klassisch und modern. Und jedes auf seine Art  meisterhaft, unverkennbar oder besser gesagt, auch für den Besucher der Ausstellung sofort erkennbar: hier wird die Welt zitiert.

Die Künstlerin unterlegt dieser Zusammenstellung von Sonnenlicht überfluteten Facetten der sichtbaren Welten auch eine Wahrnehmung des Zeitlichen. Nicht nur in der Wahl und der Entstehung ihrer Motive sondern auch in der Anfertigung der gewirkten Bilder. Wenn man bedenkt, wieviel Zeit im Entstehungsprozess einer Tapisserie das reine Bildweben in Anspruch nimmt, ist es nicht verwunderlich, dass eine junge Frau uns, wenn schon die Welt, dann gleich „die ganze Welt auf einmal“ zeigen will. Leicht nachzuvollziehen ist, wieviel Disziplin es braucht, um das bunte, oft schrille, facettenartige Bild der pulsierenden Welt in vielen Monaten ruhig und geduldig zu weben. Und auch die Anfertigung des neusten Bildteppichs hat gute 2 Jahre gedauert. Das ist an sich eine lange Zeit, und erfordert nicht nur einen hohen Grad an Verbindlichkeit, sondern auch eine sorgfältige Auswahl der Themen, denen man einen Teil seines Lebens zu widmen bereit ist.

Und gerade in Hinblick auf den Faktor Zeit soll nicht unerwähnt bleiben, dass bei den Herrschern über das Alte Peru, den Inkas, für das Weben der feinsten Textilien Frauen und Mädchen ausgewählt wurden, die dann von allen weiteren alltäglichen Verpflichtungen befreit waren. Sie wurden mit allem Notwendigen versorgt, damit sie durch nichts abgelenkt werden konnten, das einen Zeitverlust bedeutet hätte.

 

Zweite Werkphase: Der „fallende Mensch“

 

Der „fallende Mensch“ erscheint zum ersten Mal in der letzten Collage von 1990, fast unauffällig als Reihenmuster einer Tapete. Sichtbar schnell, noch unmittelbar auf demselben Bild nimmt er die Form eines Zeichenmännchens an, herausgefallen aus Raum und Zeit. Dieses Zeichenmännchen wird von nun an zum steten Begleiter in Mildes Tapisserien. Mit ihm „zeichnet“ sie die Comics des Lebens, Menschenschicksale, die sie gesehen und von denen sie gehört hat.  Der „fallende Mensch“ wird zum „fehlbaren Mensch“. Andrea Milde integriert über die Comics Frauenschicksale in ihre Werke. Am deutlichsten kommt es in dem großformatigen Werk „Sieben Marien“ (1997 – 2001) zum Ausdruck.

Andrea Milde, September 2017 in der Ausstellung „Nach Strich und Faden“ vor ihren „Sieben Marien“. 1997 – 2001. 4,5 m x ca. 1,65 m. © Katalin Nagy

Die Arbeit ist eine aus sieben Teilen bestehende Bilderreihe, die sich zu einer alltäglichen Dorfszene zusammenfügt. Sieben Frauen, sieben Marien, sitzen auf einer Bank vor dem Haus an einer unbekannten Dorfstraße. Ihr Haar ist mit einem Kopftuch und ihre Schulter traditionell mit einem gestrickten Schultertuch bedeckt.

Eine der Frauen erzählt, die anderen hören zu. Vielleicht ist es gerade die Geschichte, die am unteren Rand als Comic dargestellt ist. Unter den Röcken, hinter den Schürzen, symbolischer könnte es kaum sein. Frauenschicksale werden oft bedeckt gehalten, selten öffentlich erzählt.

Sieben Marien. 1997 – 2001. Detail. © Katalin Nagy

Sieben Marien. 1997 – 2001. Detail. © Katalin Nagy

Wie zufällig entstehen neben den Hauptfiguren des Bildes oft schmale Streifen, die ohne Motive leer sind und deshalb als kleine Bildflächen dienen. Genau hier sieht Andrea Milde ihre Chance, die Bildfläche und auch die Ebenen der Erzählung zu teilen. Auf diesen schmalen Flächen erscheinen plötzlich wie gezeichnet wirkende menschliche Figuren, Frauen und Männer, in verschiedenen, aufeinander folgenden Szenen. Hier nimmt sich Andrea Milde ihre künstlerische Freiheit, und „bespielt“ die kleinen Flächen mit durch eingewebte Linien gezeichneten Geschichten. Sie verwendet den „gefundenen“ Raum für das Darstellen von menschlichen Schicksalen.

Sieben Marien. 1997 – 2001. Detail. © Katalin Nagy

 

Sieben Marien. 1997 – 2001. Detail. © Maja Peltzer

Mit dem Erscheinen der Comics kommt es zu einer wichtigen technischen Veränderung bei den Tapisseriarbeiten: die Linien werden feiner. Wohl auch deshalb arbeitet Milde von nun an auch handwerklich feiner. Sie spannt die Kettfäden näher zueinander und auch die Schussfäden werden dünner und dichter. Die Erhöhung der Fadenzahl pro Zentimeter erhöht auch die Feinheit der Gewebe. Dies bedeutet gleichzeitig mehr Arbeit, das heißt, mehr Zeit.

Da die Reihenfolge der einzelnen Arbeitsschritte festgelegt ist, verändert sich die Arbeitsrichtung und dadurch auch die Sichtachse auf der Arbeitsfläche immer wieder, ob man das Bild komponiert, die Kette spannt, den Karton befestigt oder anfängt zu weben. Durch das Einfügen der Comics während des Webens verändert sich diese Sichtachse ein weiteres Mal. Man bekommt den Eindruck, als läge es der Künstlerin daran, alle Ebenen und Möglichkeiten des Mediums auszureizen.

So greifen Inhalt und Technik in der Bildwirkerei ineinander, so bedingen sie sich. Da werden Schicksale, verschiedene Materialien und verschiedene Themen miteinander verwoben. Nicht nur physisch, auch in übertragenem Sinne. Fest verwoben. So fragil die einzelnen Fasern zu Beginn des Arbeitsprozesses erscheinen mögen, so fest ist die Struktur des fertig gewebten Bildes.

 

Die Erzählungen von Andrea Milde: Lebenswelten in Europa

 

Über die Jahre baut Milde ihr technisches Können aus. So entstanden die fast dreidimensional wirkenden Darstellungen, bei denen die unterschiedlichen Stoffe, Materialien und Techniken sehr plastisch, besonders meisterhaft nachempfunden wurden. Diese wird besonders an der Bildkomposition der „Sieben Marien“ (1997 – 2001) sichtbar. Hier wurden die Schultertücher, die von den Frauen selbst gestrickt und für den Alltag benutzt werden, naturgetreu wiedergegeben. Verwendet werden dieselben Acrylgarne, auch mal in grellen Farben, wie sie von den Frauen spanischer Dörfer verwendet wurden. Dieses sehr ausgereifte Werk, mit der Zusammenstellung vieler sehr unterschiedlicher textiler Oberflächen zeigt nicht nur handwerkliche Erfahrung sondern auch ein tieferes Verständnis für die Menschen.

 

Sieben Marien. 1997 – 2001. Detail. © Andrea Milde

 

Nach den vielen Jahren, während derer sie alleine an ihren Bildern gearbeitet hat, nahm Andrea Milde 2010-2011 an einem großen Gemeinschaftsprojekt mit dem Titel „Web of Europe“ – „Das Gewebe von Europa“ teil. Hier webten 27 Tapisserie-Künstler aus ganz Europa nach dem Vorbild eines historischen Wandbehangs aus Brüssel, das im 18. Jahrhundert eines der traditionellen Zentren der Bildwirkerei Europas war. Die einzelnen, neu interpretierten Teile wurden zu einem Werk zusammengefügt und in verschiedenen Ausstellungen gezeigt. Die Künstlerin beschreibt die Erfahrungen, die ihr dieses Projekt bot: „Also, ich habe beschlossen, meine künstlerische Freiheit bewusst zurückzunehmen und sozusagen in die Rolle eines Bildwebers zu schlüpfen (d. h. von der Kunst, die bei mir normalerweise die Oberhand gewinnt, zum Handwerk). Und es war im Nachhinein eine interessante Erfahrung, sich selbst diese Schranke auferlegt zu haben. […] eine Annäherung aus einem anderen Sichtwinkel, die mir die Arbeitsweise eines Webers in einer Manufaktur des 18. Jahrhunderts verständlicher gemacht hat.“ (Vgl. Milde, A., 2010) 

 

Es scheint so, als hätte Andrea Milde nach einer Reglementierung der künstlerischen Phantasie und stürmischen Energie gesucht. Mag sein, sie wollte sich selbst Grenzen auferlegen, die zu überschreiten sind. Ein Ziel erkennt man in ihren Bildern. Ihr Anliegen ist es, die Beschränkungen, die durch die Zeit und durch die technischen Bedingungen des Handwerks gegeben sind, zu lockern und letztendlich die Grenzen zu erweitern.

 

Poisson I und II, 1984-85. Detail. © Andrea Milde

 

Die frühere kräftige und plakative Darstellung veränderte sich über die Jahrzehnte. Von der Abschlussarbeit  bis zu dem letzen unvollendeten „Großes Tableau“ (Titel: „Freitag, Teil I. und Entwurf“) bestehend aus mehreren Webbahnen, wird die Farbpalette immer kleiner.

 

Freitag, Unvollendet, 2002 – 2006. 220 x 90 cm. Kette: 7 Fäden/cm. © Katalin Nagy

 

Das (noch) unvollendete Werk vermittelt eine sehr gedämpfte Stimmung, sehr subtil. Hier muss man sich wirklich nach vorne beugen, genau hinsehen und sich fragen, was da abgebildet ist.

 

17. Freitag, Unvollendet, 2002 – 2006. Detail. © Katalin Nagy

 

Diese Veränderung in der Farbgebung ist Teil einer künstlerischen Entwicklung, deren weiterer Verlauf mit Spannung zu erwarten bleibt. Sicher ist, dass wir auch hier einem angefangenen Comic begegnen und nur noch nicht wissen, wie genau die Geschichte weitergeht.

 

17. Freitag, Unvollendet, 2002 – 2006. Detail. © Katalin Nagy

Wo ist Heimat? Wo ist Zuhause? Die Geschichte der Menschheit ist kein langer ruhiger Fluss, manchmal geschieht es, dass plötzlich alles anders ist, alles ist weg. Beim Weben passiert das nicht. Ist ein Bild erst einmal eingewebt, bleibt es erhalten. Es ist fest verwoben und kaum auflösbar.

Wenn Sie die gewirkten Bilder von Andrea Milde sehen möchten, dann bietet sich Ihnen in der Ausstellung eine ausgezeichnete Gelegenheit. Doch die Erzählungen dahinter sind mehr, weit mehr als nur die Bilder. Andrea Milde erzählt über die Menschen, sie erzählt über uns.

Hier möchte ich mich bei Andrea Milde herzlichst für die interessanten Gespräche bedanken.

Text: Katalin Nagy
Redaktion: Maja Peltzer
Fotos: Katalin Nagy, Andrea Milde, Maja Peltzer.

Die Ausstellung „Nach Strich und Faden“ war bis zum 29.10.2017 in Berlin, im Museum Pankow in der Prenzlauer Allee 227 / 228 zu besichtigen. Hier konnte an den Donnerstagabenden die Gelegenheit genutzt werden, die Künstlerin bei einer ihrer Führungen persönlich kennenzulernen und mehr über die Arbeitsweise einer Bildwirkerin zu erfahren

Die Autorin Katalin Nagy ist Ingenieurin für Textiltechnologie. Außerdem studierte sie Ethnologie und Altamerikanistik und schrieb ihre M.A. in Altamerikanistik mit dem Schwerpunkt auf Textilien. Zu Letzt erschien ein Artikel von ihr in dem Textilkatalog der präkolumbischen Sammlung des Ethnologischen Museums Berlin. Als Spezialistin für Textilien war sie zuständig für die Objektgruppe der Textilien eines archäologischen Ausgrabungsprojekts in Peru. Heute betreut sie Ausstellungsprojekte von Museen und arbeitet freiberuflich als Beraterin in dem Bereich der Geschichte der Textilkultur. Katalin Nagy lebt in Berlin und ist via E-Mail zu erreichen unter: katalin.nagy.berlin@gmail.com

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