Feinste Zwirne stapeln sich in dem schmalen Lädchen Fichu in der Berliner Akazienstrasse bis unter die Decke. Seit 1928 ist der Stoffladen im Bezirk Schöneberg in Familienhand und wird von Oleg Ilyapour, dem Sohn der Gründer, weitergeführt. 1985 übernahm er das Ladengeschäft des einstigen Stoffgroßhandels, den seine Mutter leitete und empfindet es bis heute als ein Geschenk, in diesem Metier arbeiten zu können.
Wer sich bei Fichu einen Stoff in Ruhe auswählen will, legt ihn auf die Stoffstapel und lässt sich erklären, nach welchem Web- und Druckverfahren, aus welchem Garn und in welcher Fabrik er hergestellt worden ist. Und wem bei der Fülle des Angebots die Auswahl schwer fällt, dem sagt Oleg Ilyapour: „Du hast doch bestimmt ’ne Version davon, was eine Zweite Haut für Dich sein könnte. Wenn Du dem nachspürst, merkst Du, dass Du eigentlich schon ungefähr weisst, welches Material, Farbe und Muster Du gerne hättest. Diesem Gefühl gehst Du nach und kaufst Dir einen billigen Stoff, malst das auf und drapierst ihn um Dich herum. Dann kommst Du zu mir und findest genau den Stoff, der Deiner inneren Vorstellung entspricht.“
In der Zeit von den 1930er bis zu den 60er Jahren kaufte Ilyapours Mutter erlesene Stoffe im internationalen Handel und legten ein Lager an, das heute von unermesslichem textilhistorischem Wert ist. Kaum eine der herstellenden Webereien existiert noch, und die bei Fichu gehandelten Textilien zeugen von dem Wissensschatz dieses zumindest aus Europa ausgewanderten und auch sonst abseits der Massenproduktion einschlafenden Industriezweiges.
Für die Bestellung der Stoffe forderte man die Musterbücher bei den Webereien an, die bis in die 60er Jahre hinein im Schnitt 200 neue Designs pro Saison vorstellten. In die Musterbücher eingeheftet waren mit der Zackenschere geschnittene Stoffproben (Coupons), sodass man die Materialien und Farben im Original vorliegen hatte. „Gerade in Berlin gab es Vertretungen von Textilfirmen aus aller Welt und richtig gut gelaufen ist das Geschäft bis 15 Jahre nach dem 2. Weltkrieg“, sagt Ilyapour. „Anfang der 60er Jahre begann die Produktion von synthetischen Garnen, das waren Polymere mit den Namen Nyltest, Trevira und Dralon, mit 45% Schurwoll- und dem Rest Polymeranteil. Das waren Stoffe, in denen man geschwitzt und gestunken hat, weil die nicht atmungsaktiv waren. Die haben wir nie angefasst und – klar wurde Kleidung damit bezahlbar. Davor hatte man halt nur den einen Anzug, wenn man kein Geld hatte. Der hielt dann auch ein ganzes Leben. Und wer mehr hatte, leistete sich für verschiedene Anlässe auch die feineren Zwirne.“
Liebe Leserinnen und Leser von Der fremde Faden,
ich leiste mit frei zugänglichen Texten meinen gesellschaftlichen Beitrag zu einem weltoffenen Kulturverständnis. Unterstützen Sie mich dabei und bezahlen Sie meine Arbeit via PayPal oder per Überweisung mit einem Betrag Ihrer Wahl! I Schon der Preis einer Kaffeetasse würde genügen! Vielen Dank – Maja Peltzer, Herausgeberin von Der fremde Faden. Bezahlen können Sie:
via PayPal zB.mit 2,90 € / 5,00 € / 10,00 €
Oder per Überweisung an: Kontoinhaberin Maja Peltzer, IBAN DE57 5108 0060 0035 3073 04, BIC DRESDEFF510 (Dresdner Bank Wiesbaden).
Wenn Sie eine Rechnung brauchen, dann schreiben Sie eine E-Mail an Maja Peltzer!
Da hochwertige Textilien aus aufwendiger Produktion für den schnelllebigen Weltmarkt und die Massenproduktion ungeeignet sind, kennt kaum einer mehr die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten textiler Gewebe. Das Staunen der Kundschaft von Fichu zeugt so nicht nur von dem Verschwinden hochwertiger Gewebe aus der allgemeinen Wahrnehmung, sondern erzählt auch von einem Verlust der sinnlichen Vielfalt und von der Sehnsucht nach erfahrbarer Qualität bei den potenziellen Kunden.
So verwundert es nicht, dass die meist im hochpreisigen Segment liegende Meterware von der Laufkundschaft zwar bewundert und wertgeschätzt, aber eher von Sammlern und Kennern gekauft wird. Dennoch widmet sich Oleg Ilyapour den neugierigen Besuchern seines Ladens fast schon wie ein Museumsführer und erzählt beharrlich von der aufwendigen Herstellung der Textilien. Er hat zu jedem seiner Stoffe eine persönliche Beziehung, denn er ist mit ihnen aufgewachsen und kennt die Geschichte und den Wert jedes Textils. Auf die Frage, ob er einen Lieblingsstoff hat, sagt Ilyapour, dass er alle seine Stoffe liebt, denn jede Zeit habe ihre Muster und Symbole. „Aber am Besten gefällt mir Op- oder Pop-Art,“ sagt er dann nach kurzem Nachdenken, „weil das so eine aufmüpfige Zeit war, in der alles in Frage gestellt wurde – wie eine geistige Renaissance. Da gab es das Florale, Geometrische und Konstruktivistische im Muster und als die ersten Computerchips rauskamen, die so groß wie ein DIN A 3-Format waren, wurden die im Muster aufgegriffen“.
Gar nicht wegzudenken aus dem Kiez ist Oleg Ilyapour durch seine eindrucksvolle Erscheinung und zuweilen kauzige Persönlichkeit, sommers im weißen Anzug auf dem Fahrrad und winters stets mit Hut. Einst kaufte ihm Donna Karan von jedem Stoff 2 Meter für ihr Archiv ab und auch Kostümbildner aus Hollywood legten Musterbücher seiner Sammlung an, um bei Bedarf bei ihm einzukaufen. Aber nach fast neunzig Jahren Geschäftsbetrieb in Familienhand denkt Ilyapour nun an den Rückzug auf’s „Alternteil“, wie er sagt. Doch wem er seine Stoffsammlung zum weiteren Verkauf und Verwaltung in die Hände legen kann, macht ihm bis heute Kopfzerbrechen.
Ab Dezember diesen Jahres allerdings sind sowohl seine kostbaren Stoffe für 50 % wie auch seine Kurzwaren für 20% zu erwerben. Oleg Ilyapour hofft nun, dass sich der eine oder andere Liebhaber, Kenner und Genießer einen feinen Zwirn zulegen mag!
Geöffnet ist das Geschäft Fichu in der Akazienstr. 21 nach telefonsicher Vereinbarung.
Mobil zu erreichen ist Oleg Ilyapour unter: 0176 774 13 998.
Nachtrag vom 7.5.2021:
Oleg Ilyapour ist am 6.5.2021 gestorben. Er wird mir sehr fehlen.
Mantelstoff aus Marengo-Gewebe, das wie Seehundfell aussieht. 100% Schurwolle. © Maja Peltzer Ilyapour erzählt, dass Marengo vom Gewebe her das teuerste war, was es in den 1950/60er Jahren gab. Bei unserem Treffen trug er eine Jacke, die ihm sein Mutter Ende der 1960er Jahre gekauft hat und die wie neu aussah. Weitere Informationen zum Marengo-Gewebe im Stofflexikon.com.
Hat Dir der Artikel gefallen? Du kannst dafür bezahlen!
via PayPal mit 2,90 € / 5,00 € / 10,00 €
oder per Überweisung an:
Kontoinhaberin Maja Peltzer
IBAN 5108 0060 0035 3073 04
BIC DRESDEFF510 (Dresdner Bank Wiesbaden)
Ich danke dir!
Wenn du nicht weißt, wieviel du mir bezahlen möchtest, dann klicke hier!