Er hat sie noch, die feinen Zwirne.

Oleg Ilyapour in der Türe seines Geschäftes Fichu in der Akazienstr. 21 in Berlin-Schöneberg. © Maja Peltzer

Feinste Zwirne stapeln sich in dem schmalen Lädchen Fichu in der Berliner Akazienstrasse bis unter die Decke. Seit 1928 ist der Stoffladen im Bezirk Schöneberg in Familienhand und wird von Oleg Ilyapour, dem Sohn der Gründer, weitergeführt. 1985 übernahm er das Ladengeschäft des einstigen Stoffgroßhandels, den seine Mutter leitete und empfindet es bis heute als ein Geschenk, in diesem Metier arbeiten zu können.

Oleg Ilyapour mit zwei Biedermeier-Stoffen, die von der Firma Sanfor in den 1950er Jahren in originaler Web- und Drucktechnik neu aufgelegt wurden. @ Maja Peltzer. Details sind weiter unten abgebildet.

Wer sich bei Fichu einen Stoff in Ruhe auswählen will, legt ihn auf die Stoffstapel und lässt sich erklären, nach welchem Web- und Druckverfahren, aus welchem Garn und in welcher Fabrik er hergestellt worden ist. Und wem bei der Fülle des Angebots die Auswahl schwer fällt, dem sagt Oleg Ilyapour: „Du hast doch bestimmt ’ne Version davon, was eine Zweite Haut für Dich sein könnte. Wenn Du dem nachspürst, merkst Du, dass Du eigentlich schon ungefähr weisst, welches Material, Farbe und Muster Du gerne hättest. Diesem Gefühl gehst Du nach und kaufst Dir einen billigen Stoff, malst das auf und drapierst ihn um Dich herum. Dann kommst Du zu mir und findest genau den Stoff, der Deiner inneren Vorstellung entspricht.“

Der Geschäftsinhaber im Kundengespräch. © Maja Peltzer

In der Zeit von den 1930er bis zu den 60er Jahren kaufte Ilyapours Mutter erlesene Stoffe im internationalen Handel und legten ein Lager an, das heute von unermesslichem textilhistorischem Wert ist. Kaum eine der herstellenden Webereien existiert noch, und die bei Fichu gehandelten Textilien zeugen von dem Wissensschatz dieses zumindest aus Europa ausgewanderten und auch sonst abseits der Massenproduktion einschlafenden Industriezweiges.

Musterhefte aus den 1930er Jahren mit Wollstoffen für Mäntel und Anzüge. © Maja Peltzer

Für die Bestellung der Stoffe forderte man die Musterbücher bei den Webereien an, die bis in die 60er Jahre hinein im Schnitt 200 neue Designs pro Saison vorstellten. In die Musterbücher eingeheftet waren mit der Zackenschere geschnittene Stoffproben (Coupons), sodass man die Materialien und Farben im Original vorliegen hatte. „Gerade in Berlin gab es Vertretungen von Textilfirmen aus aller Welt und richtig gut gelaufen ist das Geschäft bis 15 Jahre nach dem 2. Weltkrieg“, sagt Ilyapour. „Anfang der 60er Jahre begann die Produktion von synthetischen Garnen, das waren Polymere mit den Namen Nyltest, Trevira und Dralon, mit 45% Schurwoll- und dem Rest Polymeranteil. Das waren Stoffe, in denen man geschwitzt und gestunken hat, weil die nicht atmungsaktiv waren. Die haben wir nie angefasst und – klar wurde Kleidung damit bezahlbar. Davor hatte man halt nur den einen Anzug, wenn man kein Geld hatte. Der hielt dann auch ein ganzes Leben. Und wer mehr hatte, leistete sich für verschiedene Anlässe auch die feineren Zwirne.“

Textil-affine Kundin sucht sich einen Stoff aus. © Maja Peltzer

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Da hochwertige Textilien aus aufwendiger Produktion für den schnelllebigen Weltmarkt und die Massenproduktion ungeeignet sind, kennt kaum einer mehr die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten textiler Gewebe. Das Staunen der Kundschaft von Fichu zeugt so nicht nur von dem Verschwinden hochwertiger Gewebe aus der allgemeinen Wahrnehmung, sondern erzählt auch von einem Verlust der sinnlichen Vielfalt und von der Sehnsucht nach erfahrbarer Qualität bei den potenziellen Kunden.

Blusen- und Hemdenstoffe aus der Zeit von 1910-1954, Firma Sanfor, ägyptische Baumwolle, durchgewebt in Jaquard oder Damast, d.h. sie haben eine erfühlbare Struktur und erhabenes Muster. © Maja Peltzer

So verwundert es nicht, dass die meist im hochpreisigen Segment liegende Meterware von der Laufkundschaft zwar bewundert und wertgeschätzt, aber eher von Sammlern und Kennern gekauft wird. Dennoch widmet sich Oleg Ilyapour den neugierigen Besuchern seines Ladens fast schon wie ein Museumsführer und erzählt beharrlich von der aufwendigen Herstellung der Textilien. Er hat zu jedem seiner Stoffe eine persönliche Beziehung, denn er ist mit ihnen aufgewachsen und kennt die Geschichte und den Wert jedes Textils. Auf die Frage, ob er einen Lieblingsstoff hat, sagt Ilyapour, dass er alle seine Stoffe liebt, denn jede Zeit habe ihre Muster und Symbole. „Aber am Besten gefällt mir Op- oder Pop-Art,“ sagt er dann nach kurzem Nachdenken, „weil das so eine aufmüpfige Zeit war, in der alles in Frage gestellt wurde – wie eine geistige Renaissance. Da gab es das Florale, Geometrische und Konstruktivistische im Muster und als die ersten Computerchips rauskamen, die so groß wie ein DIN A 3-Format waren, wurden die im Muster aufgegriffen“.

Handbedruckter und signierter Musselin, 1960er Jahre,  Muster mit Abstraktionen von Computerchips in den Farben Lachs und Ecru, Collection Finlandia der Firma Jelly, ursprünglich für Marimekko produziert. 50% Angora, 50% Schurwolle. Ein Kleid aus diesem Stoff von Marimekko kostete seinerzeit 1200,- bis 1600,- DM. © Maja Peltzer

Ilyapour mit einem seiner Lieblingsstoffe aus den 1960er Jahren, einem Jaquard mit Computerchip-Design der Schweizer Firma Mettler, die seit 1742 bis vor ca. 20 Jahren in der Textilproduktion tätig war. 100% Baumwolle. © Maja Peltzer

Detail, Jaquard mit Computerchip-Design, 1960er Jahre, Firma Mettler, 100% Baumwolle. © Maja Peltzer

Ein weiterer Lieblingsstoff von Ilyapour, ein Jaquard im OP-Art-Design, 1960er Jahre, Firma Mettler. © Maja Peltzer

Detail, Jaquard mit OP-Art-Design, 1960er Jahre, Firma Mettler. © Maja Peltzer

Gar nicht wegzudenken aus dem Kiez ist Oleg Ilyapour durch seine eindrucksvolle Erscheinung und zuweilen kauzige Persönlichkeit, sommers im weißen Anzug auf dem Fahrrad und winters stets mit Hut. Einst kaufte ihm Donna Karan von jedem Stoff 2 Meter für ihr Archiv ab und auch Kostümbildner aus Hollywood legten Musterbücher seiner Sammlung an, um bei Bedarf bei ihm einzukaufen. Aber nach fast neunzig Jahren Geschäftsbetrieb in Familienhand denkt Ilyapour nun an den Rückzug auf’s „Alternteil“, wie er sagt. Doch wem er seine Stoffsammlung zum weiteren Verkauf und Verwaltung in die Hände legen kann, macht ihm bis heute Kopfzerbrechen.

Ab Dezember diesen Jahres allerdings sind sowohl seine kostbaren Stoffe für 50 % wie auch seine Kurzwaren für 20% zu erwerben. Oleg Ilyapour hofft nun, dass sich der eine oder andere Liebhaber, Kenner und Genießer einen feinen Zwirn zulegen mag!

Geöffnet ist das Geschäft Fichu in der Akazienstr. 21 nach telefonsicher Vereinbarung.

Mobil zu erreichen ist Oleg Ilyapour unter: 0176 774 13 998.

Nachtrag vom 7.5.2021:

Oleg Ilyapour ist am 6.5.2021 gestorben. Er wird mir sehr fehlen.

Mantelstoff aus Marengo-Gewebe, das wie Seehundfell aussieht. 100% Schurwolle. © Maja Peltzer Ilyapour erzählt, dass Marengo vom Gewebe her das teuerste war, was es in den 1950/60er Jahren gab. Bei unserem Treffen trug er eine Jacke, die ihm sein Mutter Ende der 1960er Jahre gekauft hat und die wie neu aussah. Weitere Informationen zum Marengo-Gewebe im Stofflexikon.com.

Hemdenstoff der Firma Sanfor, Ägyptische Baumwolle, hat eine mittlere Haltbarkeit von 50 Jahren. © Maja Peltzer

Jaquard mit O-förmigem Muster im Gewebe, wahrscheinlich Offset-Druck, 1960ger Jahre, Firma Mettler, 100% BW. © Maja Peltzer

Jaquard mit O-förmigem Muster im Gewebe, wahrscheinlich Offset-Druck, 1960ger Jahre, Firma Mettler, 100% BW. © Maja Peltzer

Biedermeier-Gewebe mit floralem Musterdruck, neu aufgelegt von der Firma Sanfor in den 1950er Jahren, Mako-Baumwolle. © Maja Peltzer

Originalmuster aus dem 18. Jahrhundert, wurden u.a. für einen Schiller-Film zu Hemden verarbeitet, neu aufgelegt von der Firma Sanfor in den 1950er Jahren, Mako-Baumwolle. Was im 18. Jahrhundert mit der Hand gewebt wurde, hat die Firma Sanfor auf mechanischen Webstühlen hergestellt. © Maja Peltzer

Kimonoseide aus Japan, handbemalt, vom Künstler signiertes Unikat, ca. 40 cm breit. © Maja Peltzer

Kimonoseide aus Japan, handgetaucht, vom Künstler signiertes Unikat, ca. 40 cm breit. © Maja Peltzer

Lacé de France, Baumwollspitze mit floralem Muster, mit der Hand applizierter Bast. Dieser Stoff wird immer noch auf Anfrage in Sankt Gallen bei Schlepfer produziert und kostete bereits vor einigen Jahren 650.-€ der Meter. Hergestellt wurde er bei einer Bestellung ab 25 Metern, das bedeutet eine Mindestabnahme im Wert von 16.500,- € © Maja Peltzer

Lacé de France, Baumwollspitze mit floralem Muster, mit der Hand applizierter Bast. © Maja Peltzer

Seiden-Lacé @ Maja Peltzer

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