Berlin am 14.11.2015, nach den Anschlägen in Paris.

Unser Fernseher mit dem Bild vom Stade de France, auf dem zu sehen ist, wie die Ordner das Publikum von der Innenfläche zu den geöffneten Toren leitet. ©Maja Peltzer

Unser Fernseher mit dem Bild vom Stade de France, auf dem zu sehen ist, wie die Ordner das Publikum von der Innenfläche zu den geöffneten Toren leitet. ©Maja Peltzer

Gott sei dank regnet es heute nicht,
wir weinen schon genug!

Ich habe schlecht geschlafen. Eigentlich hatte ich mein Stickzeug beim Fußballspiel in der Hand und wollte einen geruhsamen Abend mit meiner Familie verbringen. Fußball gucken, na gut, das können die anderen ja gerne machen, hauptsache nicht zu laut und der Rasen ist grün. Einzig der souveräne Musketier namens Hummels, Spitzname d’Artagnan und natürlich Boateng bringen mich zum Zuschauen. Komische Geräusche sind da im Fernsehn zu hören, wie Detonationen unbekannter Herkunft. Oh je, wie paranoid sind wir schon, und was eine Herausforderung wird das für Frankreich sein, bei der Europameisterschaft die Sicherheit zu gewährleisten? Ich schiebe die Gedanken beiseite und widme mich meinen Rückstichen. 

Nach und nach jedoch sickern die furchtbaren Nachrichten über die Anschläge in Paris durch, der Fußballmoderator hält tapfer die Stellung, hörbar und zugegebener Maßen von der Situation überfordert.

Diese Nacht verfolge ich dann bis um Drei Uhr die Nachrichten im Internet. Um Sieben wache ich wieder auf, lese weiter, schlafe bis um Zehn, höre die Ansprache von Frau Merkel in ganzer Länge im Radio. Erst denke ich, mein Gott, sie kann einfach nicht reden, ich halt’s nicht aus und dann auf einmal kommen mir die Tränen, ja richtig, wir lassen das nicht zu, den Angriff auf die Freiheit, die wir lieben und die den Attentätern so hassenswert erscheint.

Der Tag schleppt sich dahin, ich sitze in der Küche und überlege, soll mein Sohn nächstes Jahr wirklich seine Klassenfahrt nach Paris machen, dorthin, wo krampfhaft versucht wird, Sicherheit zu schaffen? Beschränkt nicht jeder Versuch, unsere Lebenswelt sicherer zu machen auch unsere Freiheit?

Der Blick aus den Fenstern unserer Wohnung zeigt, die Berlinflagge auf dem Schöneberger Rathaus ist immer noch nicht auf Halbmast, wann wird das bloß gemacht? Und ich weiss garnicht, wie soll ich nach draußen gehen? Mit einem Trauerflor um den Oberarm, wie es Fußballspieler tun? Zur Französischen Botschaft, Blumen niederlegen? Eine Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt, direkt neben dem Kanzleramt, besuchen? Oder einfach hinaus treten in die Welt: den Menschen in die Gesichter gucken, den Boden unter den Füßen spüren, die herrliche Berliner Luft einatmen.

Erst da merke ich, zu etwas anderem, als vor die Tür zu gehen, bin ich gar nicht in der Lage: ich stehe unter Schock! Und ich habe Angst und Wut zugleich: verdammt, genau so funktioniert Terror. Du hast Angst, bist paralisiert und schränkst Dich in Deiner Bewegungsfreiheit ein. Ist es so in Jerusalem, wo Du nicht weisst, ob Du den nächsten Tag noch erleben wirst? Ist Jerusalem jetzt überall?

Oh, wie perfide, die Anschläge zeitgleich mit einem international übertragenen Fußballspiel zu planen. Das ist die selbe Masche, wie mit dem World Trade Center. Jetzt haben diese hasserfüllten, menschenverachtenden Wesen wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft. Wie soll man da Bericht erstatten, ohne deren Absichten in die Hände zu spielen?

Und wie kann ein Mensch, den eine Mutter getragen, geboren, mit oder ohne Familie aufgezogen, wie kann ein Mensch glauben, er täte Recht damit, sich und andere in den Tod zu ziehen? Was tut ein Selbstmordattentäter seiner Mutter, seiner Familie, seinen Kindern da an? Nehmen diese Leute Drogen, die sie alle Hemmungen verlieren lassen? Indem sie sich und andere aus vermeintlich religiösen Motiven töten, verachten sie das, wofür Religion steht, sie verachten die Schöpfung. Das ist doch dumm, armselig und unendlich traurig.

Ich nehme mir vor, heute einen Kuchen zu backen, ein schönes Abendessen zu kochen, Musik zu hören, einen guten Wein zu trinken, alles Dinge, die, betrachtet man sie genauer, jedes für sich ein kleines Wunder sind. Aber erst spaziere ich mit meiner Familie durch unseren Kiez, wir kaufen ein, besorgen einen Kalender im Buchladen. An der Kasse werden wir gefragt, ob wir eine Tüte für den Kalender brauchen? Nein, sage ich, brauchen wir nicht, der ist ja schon eingeschweisst und außerdem regnet es heute draußen Gott sei Dank nicht, wir weinen schließlich schon genug.

Als ich nach Hause komme, sehe ich es schon vor der Tür: der Berliner Bär hängt auf Halbmast.

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