Zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls veröffentlicht Der fremde Faden eine Reihe mit Texten und Interviews von und mit Zeitzeugen, illustriert mit aktuellen Bildern des ehemaligen Mauerverlaufs.
Aus dem Gesicht gefallen
Am 9. November 1989 saß ich bei meinen Eltern krank auf der Couch und sah im Fernsehen dieses Ereignis, also die Pressekonferenz, wo der Schabowski das tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft sagte. Das habe ich gesehen und mir ist alles aus dem Gesicht gefallen.
Ich war 19 Jahre alt und wir waren ja alle politisch sehr aktiv, damals. Wir haben bei den großen Demos, den großen Friedenstreffen in der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauerberg und da überall mitgemacht. Ich habe mit meinen Freunden viele Nächte abgehangen und über die Politik diskutiert. Das System war ja vor der Maueröffnung zusammengestürzt und wir haben nach Modellen gesucht, die für die DDR machbar wären.
Am 4. November 1989 gab es dann diese sehr große Demonstration, mit ich weiß nicht wie vielen Menschen, aber es war die größte Demonstration ever. Und nachdem 5 Tage später die Mauer quasi mit Schabowskis Satz fiel, beobachtete ich im Fernsehen, wie sich in der Nacht alles überschlug.
Schön, dass das passiert ist
Zum ersten Mal in West-Berlin war ich etwa 3 Tage nach der Maueröffnung. Wir haben den Übergang an der Bornholmer Straße genommen, was sehr aufregend war. Heute ist das ja gar nicht mehr zu sehen, aber zu DDR- und Wende-Zeiten gab es da eine Übergangsstelle mit Kontrollhäuschen, das war auf einer großen asphaltierten, überdachten Fläche. Und da war der Teufel los. Heute ist da ein Supermarkt.
Wir sind da durch und dann zu meinem Cousin über die Stadtautobahn nach Tempelhof gefahren. West-Berlin schien nur aus Autobahn zu bestehen. Dort angekommen war das echt cool, die hatten so’ne schöne Altberliner Wohnung und als wir auf den Parkplatz aufgefahren sind, kam ein West-Berliner auf uns zu, gab uns’ne Tafel Schokolade und sagte Schön, dass das passiert ist.
Es gab ja damals Begrüßungsgeld für jeden Ossi: 100 Mark, verrückt oder? Einfach so mit deinem DDR-Ausweis, du musstest nur zur Sparkasse gehen oder zur Bank und hast gesagt ich bin Ossi! Mein Begrüßungsgeld habe ich aber erst 2 Wochen später geholt, ich hatte keine Lust, mich an den Banken in die langen Schlangen zu stellen, die anfangs um mehrere Ecken gingen.
West-Besuch
Zu DDR-Zeiten hatten wir monatlich Besuch aus dem Westen und auch meine Eltern sind jedes Jahr in den Westen gefahren. Wir vermuteten, dass der Staat ihnen das erlaubte, weil er sie raus haben wollte, aber drüben bleiben wollten sie nicht. Meine Schwester ist auch mal ausgereist, wir Jungs durften nie, wir hatten den Wehrdienst verweigert und konnten nicht ausreisen.
Sozialistisches Leben
Dadurch, dass mein Vater Pfarrer war, waren wir quasi in einer Widerstandsposition. Wir vier Kinder waren in keiner dieser Jugendorganisationen der DDR: also keine Jungpioniere, keine Thälmann-Pioniere, keine Freie Deutsche Jugend/FDJ. Damit warst du sowieso immer in so einer Sonderposition. Du hast nicht am sozialistischen Leben teilgenommen, weil du das nicht wolltest. Und wenn du in dieses System nicht eingebunden warst, warst du schon im Widerstand.
So hatten wir ein freies, schönes und ganz normales Leben, das kein sozialistisches Leben war. Von den acht Wochen Sommerferien in der DDR waren wir sechs Wochen unterwegs, mal in kirchlichen Jugendheimen und mal mit den Eltern in Polen campen, an der polnischen Ostsee oder in den Masuren.
Das war traumhaft und mehr brauchst du auch nicht. Ich bin da immer sehr zweifelnd, wenn Leute sagen, ihr wart doch eingesperrt. Und obwohl wir de facto eingesperrt waren, haben wir das nicht so gefühlt. Ich konnte zwar nicht nach Spanien oder Portugal verreisen, aber wir haben unser Leben gelebt, auch mit…oder gegen den Staat – und wir haben die tollsten Sommer in den achtziger Jahren gelebt. Als dann die DDR-Bürger lauter wurden, war’s natürlich sowieso eine sauspannende Zeit und dass ich das mit erlebt habe, das ist schon echt abgefahren.
Eine Form finden, die man besser leben kann
Vor dem Mauerfall und kurz danach hatten wir Ideen dazu, wie der richtige Sozialismus, also nicht das, was in der DDR Sozialismus genannt wurde, umzusetzen wäre. Nächtelang debattierten wir und rauchten dabei wie die Schlote. Wir waren natürlich Revoluzzer und voller toller Gedanken, wie man diesen Staat besser machen könnte. Endlich war Platz da, auch die Gedanken waren frei und das Neue Forum entstand. Es wäre gut gewesen, man hätte einen neuen Staat gegründet und dabei eine Alternative aus irgendeinem Surrogat von BRD und DDR entwickelt, in dem man alles, was in beiden nicht gut gelaufen ist, weglässt. Unsere Hoffnung war, eine Form zu finden, die man besser leben kann. Aber diesen Platz, diesen Raum für neue Ideen gab es dann irgendwann nicht mehr.
Alles brach zusammen in mir
Der Wendepunkt war, als ich in der Presse immer häufiger den Satz Deutschland einig Vaterland hörte. Da brach alles zusammen in mir. Da war mir klar, das kannst du nicht mehr umdrehen, das wird jetzt darauf hinauslaufen, dass ein Staat den andern schluckt. Und wie wir wissen, hat die DDR nicht die BRD geschluckt (lacht). Ich gab auf, mir Gedanken zu machen darüber, wie dieser Staat besser oder anders sein könnte. Ich beobachtete, dass die Menschen nicht bereit für den Sozialismus waren. Sie sind gierig und das ist unser Verderben, denn Gier frißt Hirn. Das war eine schlimme Erkenntnis. Ich war damals Anfang Zwanzig und es fühlte sich an, als würde ich mit aller Gewalt auf den Boden der Tatsachen zurück gezogen.
Ossis sind doof
Ich hatte also irgendwie die Fantasie verloren, suchte aber natürlich trotzdem meinen Weg. Zur Wendezeit war ich Möbeltischler und arbeitete u.a. bei einem Restaurator in Pankow und danach bei einer Raumausstatter-Bude in Charlottenburg, Berlin-West. Mein Chef dort dachte wohl, alle Ossis sind doof und hat mich nicht richtig angemeldet und schwarz bezahlt, da bin ich dann weggegangen zu einer Bautischlerei nach Steglitz. Inzwischen wohnte ich auch in Berlin-Schöneberg, weil ich die Infrastruktur im Westteil der Stadt einfach lieber mochte. Sie war so gut gewachsen und es war ein Leben, das funktionierte, während im Ostteil der Stadt alles zusammenbrach, das war wirklich eine Katastrophe da drüben. Das ganze Ost-Leben war gar nicht mehr existent und der Osten der Stadt wurde komplett mit Mist überschwemmt.
Der erste Zivi in Berlin
Nachdem dann die beiden „Staaten“ vereinigt worden waren, kam irgendwann die Bundesrepublik zu mir und meinte: wir haben jetzt ein neues System, wie siehts denn aus, du kannst ja jetzt zum Wehrdienst gehen. Ich musste denen dann erst mal erklären, dass es nicht am System, sondern daran liegt, dass ich nichts mit Waffen zu tun haben wollte. Ich verweigerte also den Wehrdienst noch ein mal ganz offiziell vor einer Kommission und so kam es, dass ich mit 21 Jahren der erste Zivi in West-Berlin wurde. Das war lustig, weil da alle Seiten voneinenander lernten, denn im Amt von West-Berlin wusste eigentlich keiner so recht, was ein Zivildienstleistender eigentlich machen muss. Und ich hatte eine graue Fibel, in der standen meine Rechte und Pflichten. Die studierte ich während ich im Seniorenheim Siemensstadt in der Großküche fröhlich meinen Dienst ableistete.
Nach dem Zivildienst habe ich nicht mehr als Tischler gearbeitet, sondern mein Abitur nachgemacht. Ich war in der DDR ja nicht in der FDJ und hatte mich auch nicht für drei Jahre für den Wehrdienst verpflichtet, folglich durfte ich kein Abi machen und nicht studieren. Das holte ich dann an der TFH im Wedding nach.
Vom Club zur Arbeit
Nach der Wendezeit war ich also gar nicht mehr politisch aktiv und hatte auch zu den Leuten, mit denen ich Nächte lang in irgendwelchen Prenzlauerberg-Wohnungen gesessen und viel zu viel geraucht und getrunken und tolle Ideen gesponnen habe, überhaupt keinen Kontakt mehr.
Berlin in der Wende-Zeit war trotzdem sauspannend, wir haben gefeiert und manchmal bin ich morgens aus dem Club direkt zur Arbeit gegangen. Das waren die schönen Seiten der Wende. Aber diese ganzen Ideen, die hatten wir quasi frustriert in die Ecke geschoben, und uns damit abgefunden, dass sie auf keinen fruchtbaren Boden treffen konnten.
Demokratie tut weh
Heute allerdings ist es genau, wie man es nicht haben will. Die Leute, die nicht selber nachdenken wollen, werden jetzt von einer Partei mit populistischem Dreck eingefangen. Das geht mir gehörig auf die Nerven und erinnert mich an die Nach-Wende-Zeit, als ich aus West-Berlin zu meinen Eltern gefahren bin oder auf eine Party in der Gegend eingeladen war. Da wurde ich ja schon angeguckt, wie einer vom anderen Stern und wurde gefragt, wie ich denn da „im Westen“ leben könnte.
Die waren alle so frustriert damals über ihr Leben und haben gemeint, dass sie verarscht wurden und ich habe denen dann gesagt: Leute, was gerade passiert, das habt Ihr selber doch so gewollt! Damals wie heute schalten die ihre Köpfe nicht ein! Da kann man nur sagen, ja dann lauft doch in Euer Verderben…und das machen sie auch…. und wir alle mit…so ist das in der Demokratie, Demokratie tut weh, muss weh tun.
Mein Dank gilt dem Zeitzeugen Mark Winkler, der sich gerne interviewen ließ.
Über mauerfall30.berlin kommt man zum Veranstaltungskalender des Jubiläums.
Für eine eingehendere Beschäftigung mit dem Verlauf der ehemaligen Berliner Mauer kommen Sie hier auf das BerlinOnline-Portal.
Redaktion: Maja Peltzer
Bilder: Marc Peltzer, Maja Peltzer.
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