Mit Blick über die vom Sturm bewegte Karlsaue in Kassel aß ich anlässlich meines Besuchs der documenta 14 in der Grimmwelt zu Mittag, als unter den Gästen am Fenster eine Dame meine Aufmerksamkeit auf sich zog, weil sie sich weit über den Tisch lehnte, sich mit wachem Blick mehr für die Menschen als für die schöne Aussicht interessierte und lebendige Gespräche mit ihren Tischnachbarn führte. Es war Lily Brett, deren Buch Zu sehen (In Full View) mir sofort in den Sinn kam, als ich sie erkannte. In dem Buch erzählt sie davon, wie ihre Mutter mit den Erlebnissen als Internierte in einem KZ (nicht) umging und dass ihre beiden Eltern die einzigen Überlebenden ihrer jüdischen Familien waren. Voller Bewunderung fragte ich mich, wie sie wohl eine documenta erleben mag, die sich explizit dem Thema Vertreibung und der daraus folgenden Flucht widmete, noch dazu in dem Land, in dem ihre Familien ermordert worden waren und das die Eltern verließen, um woanders neu anzufangen. Dankbar, sie einmal in Aktion gesehen zu haben, setzte ich meinen Weg zu den Skulpturen in der Karlsaue fort, einmal mehr tief berührt von ihrer hoffnungstiftenden Art.
Auf dem Weg zu Rebecca Belmores Zelt aus Marmor („Biinjiya’iiing Onji“ (Von innen)), das nur wenige Schritte von der Grimmwelt entfernt an einem Hang, den Weinberg-Terassen, aufgestellt war, erinnerte ich mich an den Essay Wir Flüchtlinge von Hannah Arendt aus dem Jahr 1943, in dem sie ihre Ankunft in Amerika reflektiert. Besonders eingeprägt hatte sich mir Arendts Ringen damit, nicht als Flüchtling, sondern als eine Einwandererin gelten zu wollen, die aus freien Stücken gekommen war. Und an die Schilderung von dem, was sich mir als Widerspruch zu einer freiwilligen Handlung, wie z.B. der des Reisens oder der freien Wahl eines Wohnortes, vermittelte: eine Auflistung der Verluste, derer sie sich in der Folge der Flucht gewahr wurde und die ich mir nach der Rückkehr von der documenta nachzulesen vornahm.
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So eingestimmt lief ich den Weg Richtung Weinberg hinab und sah das warme Beige des Marmors nach einem Regenschauer zwischen dem grellen Grün des beschaulichen Parks am Weinberg leuchten. Irgendwie deplaziert und südländisch an Antike mahnend: der gekonnt in Marmor gemeißelte Faltenwurf. In der Form des uns allen bekannten, geschätzten und vorübergehenden Schlafplatzes: dem Zelt.
Besonders geeignet zum schnellen Auf- und Abbau am Strand, im Wald, am Bergbach: dort, wo es uns hinzieht, wenn wir weg wollen von Allem – einfach mal raus: Ruhe, Luft, Licht und Wetter, sonst nichts. Geflüchtet? Ja, aber im Besten Sinne doch, als Reinigungzeremoniell und zur Besinnung. Um im Kopf geklärt heimzukehren, erfrischt und mit neuem Mut.
Dieses Zelt aber ist zu Stein erstarrt. Der minimale Lebensraum festgehalten im Zustand des einst Bewegten, elegant drapiert wie der Chiton einer antiken Statue oder eines Reliefs. Dabei ist die Wanderschaft, für die das Zelt steht, schaurig eingefroren in auf ewig fixierten Stoffbrüchen, die anmuten wie Grabeskunst. Ich erinnerte mich an die attische Grabsteele der Hegeso, auf der zwei Frauen in ähnlich drapierten Kleidern zu sehen sind. Die auf der Steele zu sehende Szene lässt sich als Erzählung von den familiären und gesellschaftlichen Idealen lesen, nach denen die Verstorbenen gelebt hatten und bezeugt damit die Wichtigkeit der Familie für die staatsbürgerliche Welt der Antike.
Die Skulptur „Biinjiya’iiing Onji“ (Von innen) von Rebecca Belmore betrachtend, machte sich eine tiefe Erschütterung in mir breit. Es stellte sich mir die Frage, ob die vielen von Vertreibung betroffenen Menschen in dieser Welt auf ewig in dem Zustand der provisorischen Heimstatt und folglich in keiner oder in einer nur provisorischen staatsbürgerlichen Teilhabe verharren müssten? Und zu Hause angekommen griff ich mir, auch um diese Frage noch einmal von einer anderen Seite zu beleuchten, das blaugrau-weiß gestreifte Reclambändchen mit dem Titel Wir Flüchtlinge von Hanna Arendt und fand auf Seite 10 und 11 die Passage, in der sie die Verluste auflistet, derer sie als Folge ihrer Flucht gewahr wurde:
[…] Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.
Die Aktualität, die ich in Hannah Arendts Text sah, brachte ich mit meiner Lesart von „Biinjiya’iiing Onji“ zusammen. Beides verbindend wurde mir klar, dass die Verfasstheit Vertriebener nicht nur Empathie, sondern engagierte Aufmerksamkeit fordert. So wurde das marmorne Zelt Belmores für mich zu einem Mahnmal, dessen ästhetische Vollendung mir half, das auszuhalten, was es für mich aussagte: dass wir in Zeiten der Globalisierung und somit als Weltbürger, aufs Neue für das Recht des Einzelnen auf staatsbürgerliche Teilhabe eintreten müssen und dass ich mich frage, ob, und wenn ja, wie Demokratie damit neu zu verhandeln sei.
Doch mit diesen schweren Gedanken nicht genug: gerne würde ich jetzt bepackt mit Schlafsack, Zelt und Isomatte einen Berg besteigen und oben angekommen der weiten Ferne ein Loblied singen.
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Literaturhinweise und Anregungen:
Lily Brett, 1999, Zu sehen, Suhrkamp-Verlag, München.
Hannah Arendt, 2016, Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer, Reclams Universalbibliothek Nr. 19398, Stuttgart.
Closterman, W. (2007). „Family ideology and family history: the function of funerary markers in Classical Attic peribolos tombs“. American Journal of Archaeology. 111 (4): 635.
Zur Website von Rebecca Belmore.
Die Erstveröffentlichung dieses Artikel befand sich am 6.November 2017 auf der Der fremde Faden. Aus redaktionellen Gründen wurde er erneut im Mai 2018 veröffentlicht.