Jeder, der in Berlin in einem Altbau lebt oder arbeitet, weiß um dessen unvergleichlichen Charme: seine Räume sind großzügig, die verbauten Materialien hochwertig und wenn sie noch original sind, vollkommen unverseucht. Stein auf Stein gemauert, Rabitzwände, Doppelfenster, Profiltüren, Messingbeschläge, Holzböden häufig aus Eichenparkett, sicher aber aus breiten Kieferbolen! Ja, da fühlt ein jeder sich gleich ein wenig herrschaftlich, oder zumindest wertgeschätzt in seinem Dasein – vom Hause aus gewissermaßen. Bei so viel Qualität also fragt sich der gesunde Menschenverstand doch, warum nicht erhalten, was sich bewährt? Warum zerstören, was so viel Geschichte(n) hat?
Wie in allen Städten der Welt schmücken alte Häuser den Gesamteindruck ungemein und auch die Fassade der Englischen Straße Nr. 29 lächelt warm zwischen den langweiligen gleichförmigen Neubaufassaden. Heute tut sie das noch, ihre Tage aber sind gezählt und sie fragt: warum also wollt zu Grabe tragen Ihr mich? Ich kann das auch nicht verstehen, du Schöne, denke ich und trete wehmütig durch ihre Tür.
Der Klang der Gläser
Mir stockt der Atem: das schmiedeeiserne Geländer, verdammt, wie kann das sein, dass jemand so etwas zerstören will? Ich kann es gar nicht fassen. Was ist hier los in dieser Stadt? Reicht es nicht, dass nach dem Krieg noch so viel Erhaltenswertes eingerissen wurde und Hausbesetzer in den 1980ern und nach der Wende gegen das Gesetz verstoßend den kostbaren Wohnraum beschützen mussten?
Die entmieteten Künstler aus dem Haus fragen sich das auch und erweisen ihm mit einer Ausstellung die letzte Ehre. Zu ihrem Abgesang bespielen sie bis zum 24. Februar 2019 die Englische Strasse Nr. 29 vom Eingangsbereich über das Treppenhaus bis in den vierten Stock.
Ganz leise ruft mich ein feiner Gläser-Klang aus dem Treppenhaus als ich zum Hof durchgehe.
Hier fällt mir gegenüber der angebaute Neubau auf, der noch einigermaßen auf Traufhöhe liegt. Seltsam eigentlich, wenn doch jetzt der letzte Atlbau im Block verloren gehen wird.
Treppenhaus
Im Durchgang hängt eine Tafel mit dem 25. Artikel der Menschenrechte, in dem auch das Recht auf Wohnung festgelegt ist. Er ist zum Neu-Beschriften freigegeben.
Ich gehe die Treppe hoch und verliere mich in den Klängen der singenden Gläser von William Engelen, die über das Treppenhaus verteilt aus vier Lautsprechern heraus den gedankenverlorenen Rhythmus des Treppensteigens unterstreichen.
Die Klänge erinnern an den kurzen Zeitraum nach dem Verlassen oder vor der Rückkehr in die Wohnung, an dieses Durchschreiten der Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum, das charakteristisch ist für das Treppenhaus in Mehrfamilienhäusern. Hier schaue ich auch durch Löcher in den Wohnungstüren, die die herausgenommenen Schlösser hinterlassen haben und sehe leere und teilweise entkernte Wohnungen. Haben sie da schon die kostbaren Türen, Profile und Beschläge mitgenommen, um sie woanders einzusetzen?
Wohnung
Oben im 4ten angekommen gehe ich nach rechts, trete ein in die Wohnung und erkenne gleich den Schnitt: links drei Zimmer nach vorne raus, ineinander übergehend – mit Flügeltüren! Rechts Küche, Bad, Berliner Zimmer: das berühmte große Fenster zum Hof. Und geradezu die Kammer, der Ort, wo die Sachen hinkommen, die nicht gesehen werden sollen: wunderbar – klar bin ich neugierig und naja, da leuchtet auch was! Eine Bude ist in die Bude gebaut, aber reinsteigen geht leider nicht. Sieht aus wie ein Zeit-Fahrstuhl.
Tiefes Tönen zieht mich aus der Kammer rein in das Zimmer mit Pflanze.
Matratzen laden zum Verweilen ein. Später, denke ich mir noch, doch schon wieder tönt es aus Lautsprechern als würde ein Urvieh seinen letzten Atem aushauchen. Mir wird’s weich um die Knie, ich sinke in die Matratze und lausche, es ist herzzerreißend. Später erfahre ich, dass das Klänge der Orgel aus einer Dominikaner-Kirche aus dem 18. Jahrhundert sind. Für alle Klangarten der Orgel, auch die ungewollten, hat William Engelen das Stück geschrieben, aufgeführt und aufgenommen.
Jochen muss raus
Die Pflanze übrigens heisst Jochen und muss auch raus – natürlich, sagt Dagmara Genda, Künstlerin und Organisatorin der Ausstellung. Er lebt jetzt seit 18 Jahren mit mir in dem Haus.
Dagmara Genda hat den Grundriss der Fenster und Türen vom Wohnzimmer abgenommen und deren Konturen maßstabsgetreu auf LKW-Plane übertragen. Auf weiße Umzugsplane sagt sie mit einem kleinen Lächeln und zuckt mit den Schultern. Eine Seite habe ich schwarz bedruckt, damit die Formen besser zu sehen sind.
Ich möchte noch den Grundriss der Wohnung ausmessen, bevor wir hier Ende des Monats raus müssen. Dann werde ich die gesamte Wohnung aus LKW-Plane nachbauen. Aber im Moment komme ich garnicht dazu, weil die Ausstellung so gut besucht ist.
Spurensuche
Im nächsten Raum ist die Tapete so bemalt, als wären Notizblätter übereinander gelegt.
Überlagern sich hier die vielen Geschichten, die von dem Haus zu erzählen wären? Alten Häusern merkt man die Geschichten immer an, auch wenn man sie nicht kennt. Nur wenn die Spur der Geschichten mit dem Haus zusammen verschwindet, was dann? Was passiert, wenn die verdichtete Zeit unsichtbar wird, weil das Neue das Alte so überdeckt, dass es nicht mehr sichtbar, und im Falle des Abrisses auch nicht mehr vorhanden ist?
Kurz muss ich an den Schuttberg Berlins, den Teufelsberg, denken. Dort sammelte ich als Kind mit Begeisterung alte Fliesenstücke, es waren die Spuren der vom Krieg zerstörten Häuser, die hier aufgetürmt wurden. Damals war mir das nicht so klar, heute denke ich, wo werden die Spuren der vergangenen Zeit, all die Teile, das Holz, die Steine und Fliesen, wo also wird der Schutt hinkommen von diesem Haus. Und wem wird er dann wie von seiner Geschichte erzählen? Welches Zeugnis wird der Schutt dieses Hauses von unserer Zeit ablegen?
Grabbeigabe
Einen ähnlichen Gedanken hat Emily Hunt gehabt, als sie im Bad mit ihren keramischen Fliesen die vorhandenen Industrie-Fliesen säumte. Sie werden das Haus begleiten. Wie eine Grabbeigabe.
Untitled (2019) Emily Hunt Keramische Fliesen, Detail (Bad), Englische Straße Nr. 29, Berlin-Charlottenburg. Foto: Maja Peltzer
Etwas kam auf uns zu
Ich kehre zurück zu der Pflanze Jochen auf die Matratzen. Das alles geht mir sehr nah, finde ich und schaue hoch zu den drei Fotos mit dem Text, aus dem der Titel der Ausstellung stammt. Text und Bilder sind 1986 entstanden, als der Gau in Tschernobyl die Welt erstarren ließ.
Ich gehe weiter in das Berliner Zimmer. Das ist streng und zugleich poppig gestaltet.
Ja, es ist bunt und architektonisch, es ist industriell und genau das Gegenteil von Handarbeit: kalt wie die Gebäude drumherum sagt Dagmara Genda als ich ihr von meinem Eindruck erzähle. Das passt eigentlich gut, denn wenn jetzt an der Stelle des alten Hauses noch ein weiteres Gebäude dieser Art entstehen und damit eine seltsam homogene Ästhetik etabliert werden soll, ist das doch besorgniserregend. Nicht, weil es keine Veränderung geben soll, sondern weil es keinen erkennbaren Grund gibt, dieses gut erhaltene alte Haus abzureißen. Eigentlich müsste man das Haus besetzen, sage ich. Genda meint, wenn man das Haus nicht retten kann, dann kann man doch aber Politiker für das Problem interessieren und Gesetze ändern.
Sie verweist auf einen grundlegenden Text über die Vermeidung von Immobilienspekulation in Großstädten, den Hans Jochen Vogel bereits 1972 geschrieben hat. Dagmara Genda sagt erstaunlich abgeklärt und unaufgeregt, es gibt Möglichkeiten, Spekulation zu verhindern. Ich denke das ist der Weg.
Hier der Link zu Hans Jochen Vogel (ehem. Bürgermeister von Berlin), Bodenrecht und Stadtentwicklung, 1972. Als Print ist der Text zu finden in: Brandlhuber, Arno et al. 2015, The Dialogic City – Berlin Wird Berlin, Köln.
Erfahren habe ich von der Ausstellung über einen Beitrag von Marie Kaiser im Deutschlandfunk: Haus mit Gesicht und Geschichte
Die Ausstellung konnte bis zum 24. Februar Do. – Mo. von 15-21 Uhr und nach Vereinbarung besucht werden.
Die Bilder der Ausstellung veröffentliche ich mit freundlicher Genehmigung der Ausstellungsorganisatorin und der Künstler.
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dieser Artikel ist das Ergebnis einer Spät- und Nachtschicht. Die Dringlichkeit, ihn zu veröffentlichen führte dazu, dass ich Morgens um 6.30 Uhr mit dem guten Gefühl ins Bett ging, wieder etwas geschrieben zu haben, das als frei zugänglicher Text im Internet einen Raum der ästhetischen Reflexion öffnet.
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