Fasziniert beobachte ich die verspielte Hingabe und Konzentration eines schwarz gekleideten Herrn im Dreiteiler, der vertieft ist in die Betrachtung bestickter Kissenbezüge aus Guatemala und mit geübtem Blick einen davon auswählt. Ich helfe gerade bei Girasol aus, einem Geschäft für mittelamerikanisches Kunsthandwerk in Berlin, und frage ihn, warum er sich genau für diesen Bezug entschieden habe. Detailliert führt er mir seine Gründe auf und meint abschließend, dass er die Stickerei aus dem Kissenbezug heraustrennen und einem neuen Zweck zuführen würde. Erst recht neugierig geworden, will ich wissen, was er denn so mache, in seinem Leben und werde belohnt.
Ich arbeite mit Textilem, sagt er, woraufhin wir unsere Karten austauschen und er mir in seiner ersten Mail einen Artikel über ihn von 2012 schickt, der in Glass Quarterly, dem Magazin der UrbanGlass aus Brooklyn/New York, erschienen war. Hier entdecke ich die Welt von dem vorwiegend im angelsächsischen Raum tätigen Mann mit Nadel und Faden, der im Englischen zu Hause ist und der von sich selber sagt Beads themselves are my source of inspiration. They invite me to thread the needle.
Die kleinen Wunderwerke, die er teils einzeln auf Goldfaden aufgefädelt, teils in virtuosen Assemblagen zu kostbarem Schmuck verwandelt, bezaubern mich und ich will mehr wissen: wie er das macht und was ihn dazu bewegt: Axel Russmeyer steht auf meiner Liste!
Der folgende Artikel ist das Ergebnis unseres Treffens im Frühjahr diesen Jahres, ein Treffen in Berlin, bei dem ich das Glück hatte, einige von Russmeyers Arbeiten in den Händen halten, anlegen und für diesen Artikel schnapschußhaft fotografieren zu können, sowie Neues zu erfahren von einem Mann, dessen Hinwendung zu seinem Tun ihm nicht nur Ruhm, sondern auch tiefe Erfüllung schenkt.
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Die Kugelform
Alle Arbeiten Russmeyers haben eines gemein: die Kugelform. Und das verwundert zunächst nicht besonders, assoziert man zu Perlen doch immer rundliche Kügelchen aller Art oder aber Miniaturen mit abgerundeten Ecken, die ein Löchlein zum Auffädeln haben. Perlen werden auf Fäden aufgezogen linear oder flächig verarbeitet, mal in Ketten, mal gestickt und gewebt, z.B. als Bänder und Applikationen, oder aber in Strickereien und Häkeleien integriert. Was also ist so besonders an Axel Russmeyers Arbeiten, dass sie heute in den wichtigsten Sammlungen des Schmuckdesigns zu finden sind, z.B. eine Kette u.a. aus antiken Metallpailletten im Metropolitan Museum of Art in New York oder die Kette Gray & Grey in der ständigen Ausstellung im Victoria and Albert Museum in London?
Die Kugelhülle
Das Besondere an Russmeyers Arbeiten ist nicht nur, dass er Kugeln jeglicher Grösse mit einer Perlen-Hülle umgibt, sondern auch, dass er in einer Hülle nur eine einzige Perlenart verarbeitet und dabei mit technischer Präzision unterschiedliche Texturen entstehen lässt. Sein Prinzip kann auch als das Umhüllen eines Kugel-Kerns mit auffädelbaren Objekten von einer Art bezeichnet werden, denn Russmeyer verarbeitet alles, das sich fädeln lässt. Ich habe eine große Sammlung fädelbarer Objekte, sagt Russmeyer, darunter natürlich kostbarste Perlen. Allerdings geht es mir nicht nur um die Kostbarkeit meines Materials, denn ich nehme auch die unmöglichsten Materialien. Wichtig ist nur, dass sie durch meine Hände gehen. Und nach kurzem Nachdenken: Leute, die von meinen Arbeiten inspiriert sind, haben meine Schritte nicht gemacht.
Durch meine Hände
Russmeyer merkt an, dass Perlen durch seine Hände eine Verwandlung erfahren, zu der niemand anderes in der Lage ist. Und was sich in einem ersten Moment ein wenig überheblich anhören mag, eröffnet sich angesichts der überwältigenden Schönheit seiner Perlen. Wenn er hervorhebt, dass kein anderer den selben Weg gegangen ist, dann meint er wohl damit, dass kein Anderer in der Lage ist, das Selbe herzustellen, weil er natürlich nicht den selben Weg gegangen sein kann. Er sagt, es bestärke ihn, wenn sich Andere von seinen Arbeiten inspirieren lassen, ohne ihn zu kopieren. Es ist dann, als würde ihnen durch die Betrachtung seiner Perlenarbeiten bewußt, dass sie ihren Weg gehen müssen, um eine eigene Handschrift, ein klares Konzept, den Mut zum Experimentieren und eine Leichtigkeit in der Perfektion zu finden.
Der Weg
1998 stellte Russmeyer in New York auf der Galerie Messe für Kunsthandwerk, SOFA (Sculpture, Object and Funktional Art) aus, wo er zu gegebener Zeit eine Kette aus seiner Jackentasche zog, die er, wie er selber sagt, aus allerlei Vorhandenem, aus den vielen fertigen Perlenkugeln, die er in Beuteln sammelt, zusammengestellte hatte.
Ich war spät dran mit meinen Vorbereitungen für SOFA – und kurz vor meiner Abreise „würfelte“ ich noch schnell eine Kette zusammen. Ich war unschlüssig beim Betrachten. Es fehlte die Zeit sich länger mit der Kugelreihung zu beschäftigen und doch empfand ich, dass da etwas Besonderes enstanden war. Die Kette blieb wie sie war, aber ich nahm sie nicht automatisch in die Inventarliste für die Messe auf, sondern zeigte sie nur kurz in der Aufbauphase Susan, der Galeristin aus Kalifornien. Auch sie erkannte die „Neuartigkeit“ dieser Arbeit. Die Kette blieb aber zunächst im Verborgenen.
Während der feierlichen Eröffnung der Messe wurde ich aufmerksam auf eine New Yorkerin im Trenchcoat aus Frottee, die vor der Vitrine mit meinen Arbeiten stand. Das Gespräch offenbarte, dass sie bereits mit meinen Arbeiten bekannt war und sich sehr interessierte.
Früher als ich dachte war der Moment für die neue Kette gekommen! Ich ging in die Garderobe, steckte sie ein und holte sie vor den Augen der Kundin aus der Jackentasche. Keine 5 Minuten später war der Kauf perfekt! Wie ich später erfuhr, prägten die Mitarbeiter der Galerie daraufhin den Ausdruck „Axel’s pocket pieces“. Wichtiger an diesem Verkauf war jedoch der Wunsch der Kundin nach einem Armband. Ich fand Armschmuck aus Perlenkugeln immer widersprüchlich – wegen der angenommenen Empfindlichkeit der Perlen, doch die Kundin liess nicht locker!
Und so kam es, dass die Verwirklichung dieses Armschmucks für mich letztlich ein entscheidender Schritt, wenn nicht der entscheidende Schritt war, die Idee des Kostbaren neu zu definieren. Ich verwendete Gummiperlen und Plastikperlen, die zu Kugeln verarbeitet auf elastische Kordel gefädelt und verknotet wurden. Es lässt sich einfach über die Hand streifen und fertig. Die Kundin war happy! Das Armband erinnert irgendwie an die Zuckerperlen-Armbänder meiner Kindheit und steht im Dialog mit Arbeiten aus geordnetem Müll, wie sie Verena Sieber-Fuchs macht, deren Krägen aus Resten und Verpackungen von Pillen in eine ähnliche Richtung gehen. Sie leben auch nicht von der Kostbarkeit des Materials, sondern davon, dass trotz des entfremdeten Materials etwas Kostbares entsteht. (Auf der Seite der Mobilia-Galerie kommen Sie zum Plastikarmband: 6x auf „Next“ klicken.)
Das Machen
Russmeyer arbeitet mit dem Gourd-Stitch, einer Technik, die auf Youtube in zahlreichen Videos gezeigt wird und die relativ schnell erlernt werden kann. Mit dem Gourd-Stitch werden vorwiegend Perlenschläuche hergestellt. Das Beziehen von Perlen erfordert eine etwas andere Anordnung der einzelnen Teile, die Technik, den Faden mehrfach durch eine Perle zu ziehen, bleibt allerdings gleich. Das Ergebnis sind Perlen, die Russmeyer selbst Perlenkugeln nennt, die im deutschen Sprachgebrauch auch beperlte Perlen heißen und die von Grace Duggan in Glass Quarterly als beaded Beads bezeichnet werden.
Russmeyer redet kaum von der Technik, nicht weil sie leicht zu erlernen ist, sondern weil es darum geht, eine Technik nicht nur meisterhaft zu beherrschen, sondern auch eine eigene Ästhetik zu entwickeln. Und das geht nicht übers Reden, sondern übers Machen.
Die Geschichte
Das Machen war schon immer seine Sache, ein Machen, das in seinem häuslichen Umfeld durchaus kultiviert wurde. 1964 geboren, lebte er mit seiner Familie auf dem Land und in den Gärten seiner Kindheit züchtete er von klein auf Blumen, die er später getrocknet und zu Kränzen verarbeitet in der Familie verschenkte. Wenn er an seine Kindheit denkt, erinnert er eine Zeit voller Bienen, fließendem Honig, Autos und Handarbeiten: sein Großvater war nicht nur Polizist, sondern auch Imker, der Vater betrieb als KFZ-Mechaniker eine Autowerkstatt und die vielen anderen Familienmitglieder heimwerkelten, strickten, häkelten und kochten, was das Zeug hielt. Die Occhi (Frivolitäten) genannte Technik z.B. brachte ihm seine Großmutter bei, eine Technik, bei der man aus Knötchen und Schlaufen mithilfe eines kleinen Schiffchens Spitze herstellt. Als er einen Norweger zu stricken begann, bewunderte man seinen Ehrgeiz, nicht nur mit verschiedenfarbigen Garnen, sondern auch ohne Naht, also auf einer Rundnadel zu stricken.
Seine Strohblumenarbeiten, wie auch die kleinen naiven Bilder in Öl und Aquarell, die er malte, all‘ diese Dinge erschienen seiner Mutter irgendwie zu gut, um nur verschenkt zu werden. Schließlich meldete sie ihn 1980 beim lokalen weihnachtlichen Kunsthandwerker-Markt an, so konnte ich mein Taschengeld recht erfolgreich aufbessern und machte erste Schritte in der Öffentlichkeit beim Präsentieren meiner Arbeiten und im Umgang mit Kunden.
Zu den Kränzen und Bildern kamen schließlich Perlen hinzu, denn er hatte die Glasaugen der Firma Knorr in einem Bastelpaket entdeckt und von da an Perlen gefädelt. Nach Ohrringen habe ich beim Perlenfädeln Schlaufen gemacht und danach kam das Aufbringen auf einen Untergrund, das ja dem Sticken verwandt ist. Ich besorgte mir auf dem Flohmarkt alle Arten von Gürteln, Etuis, auch solche für Ferngläser und berarbeitete sie. Schließlich machte ich Perlenschläuche, die dicker und dünner wurden. Es konnte garnicht schwierig genug sein. Und wenn damals jemand sagte „das geht nicht“, dann habe ich erst so richtig angefangen. Daran hat sich eigentlich auch bis heute nichts geändert. 1988 schließlich machte ich meine erste Perlenkugel.
Als Russmeyer aus seiner Kindheit und von seinem frühen künstlerischen Werdegang erzählt, holt er ein Täschchen aus dieser Zeit hervor und sagt, er habe lange gezögert, seine ersten Perlenarbeiten, die sich so sehr von seinen Perlenkugeln unterscheiden, zu zeigen. Ich fotografiere das filigrane Täschchen in seiner Hand und spüre, dass dies ein besonderer Schritt für ihn ist. Heute überlegt er, wie und mit wem er eine Dokumentation seines künstlerischen Werdegangs durch die chronologsiche Archivierung seiner Arbeiten unternehmen könnte.
Das Studium
Während seines Studiums an der Fachhochschule Hamburg im Fachbereich Design erlernte Russmeyer in den 1980ern über 2 Jahre studienbegleitend das Goldschmiedehandwerk. In dieser Zeit professionalisierte er nicht nur die Schmuckherstellung, sondern verband Theorie und Praxis miteinander. Ein Schwerpunkt meines Studiums war das Thema Siegelring. Es entstanden Arbeiten, die man als Corporate Identity für eine Privatperson, z.B. einen Kunstsammler verstehen kann. Diese Erfahrung fruchtet bis heute, denn auf einen Kunden eingehen und Schmuck im Auftrag entwickeln, das macht er besonders gerne, weil er dann mit seinen Mitteln etwas ausdrücken kann, das einzig mit seinem Gegenüber zu tun hat.
Schönheit
Heute möchte ich einfach nur die Schönheit der Perlen und ihrer Verbindung hervorheben, indem ich sie annordne und zusammennähe, sagt Russmeyer. Die schlichte Schönheit und Vollkommenheit der einzelnen Perle oder die ausgefallenen Formen der zur Perle umfunktionierten Fundstücke und Objekte inspirieren ihn dabei.
Je nachdem, welcher Art die Perlen sind, hebe ich den Faden, mit dem ich sie verbinde, hervor, oder aber ich lasse ihn verschwinden. Die Oberfläche des Perlenkerns lasse ich manchmal bei transparenten Perlen durchscheinen und zeige zudem die innere, netzartige Struktur der Perlenhülle.
Mit einem andersfarbigen Garn setzt Russmeyer einen Akzent oder bettet die einzelnen Perlchen in flauschige Garne, so als würden sie in einem Nest liegen.
Die Anordnung der Perlen in der fertigen Hülle ist rein technisch und abstrakt. Dadurch, dass sie so klar ist, erinnert sie an andere Strukturen. Es verhält sich ähnlich wie beim Moiré-Effekt, bei dem aufeinandergepresste Ripps-Stofflagen ein nicht vorhersehbares Muster ausbilden, erläutert Russmeyer.
Und tatsächlich ist es frappierend, wie sich flache Perlen und Pailleten so aufstellen, dass sie an Fischschuppen erinnern. Auf meine Frage hin, ob er mit Fadenspannung und -führung solche Effekte herstellt, erklärt Russmeyer, dass er natürlich auch so Einfluss nehmen kann. Die verschiedenen Muster jedoch ergeben sich vor allem aus der Kombination von Technik, Material und jahrelanger Erfahrung. Es scheint also so zu sein, dass die Gourd-Technik mit unterschiedlichen Mustern auf den Charakter der jeweiligen Perlen und Garne reagiert. Die Ähnlichkeiten mit Phänomenen aus der Natur, wie z.B. mit Fischschuppen, Samen-Blütenständen der Sonnenblume oder Spiralformen entstehen dann quasi aus den physikalischen Gegebenheiten heraus.
Manche Ketten bestehen aus 1 oder 2 großen Perlen, die auf Goldschnüre aufgezogen sind.
Ganze Ketten aus Perlenkugeln verbindet Russmeyer mit farbigen Ripps- oder Satinbändern, wobei die Größe und Textur der einzelnen Perlen sehr verschieden sein kann.
Beim Zusammenstellen der Ketten schöpfe ich aus den Beuteln, in denen ich die fertigen Objekte, also bereits vorhandene Perlenkugeln, aufbewahre. Ich lege sie mir in einer Linie wie Spielsteine hin und entscheide gegebenenfalls: oh, da fehlt ein ganz bestimmtes Grün! Das fertige ich dann an. Verschlüsse habe ich unterschiedliche: Haken und Ösen sowie den Bayonette-Verschluss baue ich vor dem Ummanteln in den Kern ein, bei den Schleifen und Bändern fädle und knote ich auch den Verschluss.
Mingei und Das Buch vom Tee
Besonders viele Übereinstimmungen seiner Reflexionen über Ästhetik findet Russmeyer mit der japanischen Mingei-Bewegung, in der Schönheit mit traditioneller Handwerkskunst eng verbunden wird. Auch Das Buch vom Tee, in dem Kakuzo Okakura seine Auffassung vom Ästhetischen Leben darlegt, spielt für ihn eine große Rolle. Ohne im Gespräch mit ihm tiefer in das Thema einzusteigen, folge ich diesem Hinweis und beschäftige mich eingehender mit der Mingei-Bewegung.
Einer der Gründer der Mingei-Bewegung, Soetsu Yanagi, formuliert 1952 in seinem Buch Die Schönheit der einfachen Dinge eine Auffassung vom Kunsthandwerk, in der der Handwerker namenlos bleibt. Der Handwerker, so Yanagi, arbeite in der Tradition und seine Arbeit [sei] nicht das Werk irgendeines genialen Individuums, sondern der überpersönlichen Kraft der Tradition. (Yanagi,1999:88) Tradition versteht er als die Ansammlung von Erfahrung und Weisheit vieler Generationen, die von den Buddhisten die ›Verliehene Kraft‹ genannt wird. Es gebe, so schreibt er, deswegen auch keine persönliche Schönheit im einzelnen Kunsthand-Werk und folglich keine Notwendigkeit, nach dem Schöpfer zu fragen.
Doch inwiefern hat Russmeyer eine Nähe zu diesem Ansatz, hat er sich doch als Schmuckkünstler einen Namen gemacht, gerade weil er innerhalb der Tradition der Perlenarbeit seinen ganz eigenen, individuellen Weg gegangen ist?
Vielleicht wird Russmeyer zuweilen bewußt, dass das Material, mit dem er arbeitet, ihm Regeln diktiert und so eine Schönheit entsteht, die, wie es Yanagi in Die Schönheit der einfachen Dinge nennt, das Individuelle übersteigt? (Yanagi,1999:53) Denn bei der gewebe- oder netzartigen Annordnung der kleinen Perlen um den großen Perlenkern, die an Blüten- und Samenstände erinnert, zeigt sich etwas, das Yanagi in seinem Text über Muster als Tendenz zur Symmetrie beschreibt.
Symmetrie ist insofern ein natürliches und unerläßliches Prinzip für Muster, als es in der Natur selbst tief verwurzelt ist. In ihr ist eine grunglegende Symmetrie zu beobachten, zum Beispiel bei Zweigen, Blättern und Blüten. Sie verkörpert eine Ordnung, Ordnung heißt Zahlen, Gesetze. Gesetze markieren einen Ruhepunkt (Yanagi,1999:51).
Dieses Sich-Einlassen auf die Eigenheiten und die Gesetzmäßigkeiten des Materials und der sich daraus ergebenden Dynamik ist charakteristisch für die Arbeit eines Kunst-Handwerkers. Doch was hat das Gebunden-sein an Tradition und an die Eigenheiten des Materials mit jener Schönheit zu tun, von der im Ästhetischen Leben und in Das Buch vom Tee die Rede ist?
Das Buch vom Tee
Kakuzo Okakura formuliert in Das Buch vom Tee eine Weltsicht, in der es um die „Kunst in der Welt zu sein“ geht. Der einfache Akt des Teetrinkens steht hier für das alltägliche ästhetische Leben: durch ihn wird die Schönheit der Alltäglichkeit erlebbar. Und auch in seinem Text über Yanagi und das Ästhetische Leben von 2016 schreibt Tanesiha Otabe, Professor für Ästhetik in Tokyo, dass Kunst nach dieser Auffassung nicht als etwas vom alltäglichen Leben Abgehobenes erachtet wird, sondern als wichtiger Bestandteil des Alltäglichen. Dabei bezieht er sich auf Yanagis Buch Beauty and Life und führt aus, dass Schönheit mit dem Leben durch handwerkliche Arbeit (craftwork) und nicht durch künstlerische Arbeit (artwork) verbunden sei (Yanagi,1982: 442).
Dass es keine Trennung zwischen Alltag und Schönheit gibt, ist somit ein wichtiges Paradigma sowohl für die Mingei-Bewegung, wie auch für Das Buch vom Tee: Kunst und alltägliches Leben gehen in einander über und sind nicht, wie in der westlichen Auffassung von Kunst, von einander getrennt.
Dieser kurze Einblick in die Idee des Ästhetischen Lebens vermittelt, welche großer Wert hier dem durch die Bildung (cultivation) der Hände geschaffenen Schönen beigemessen wird. Es handelt sich um eine Wertschätzung, wie sie im asiatischen Raum tief verwurzelt ist und die heute im Diskurs über Ästhetik, Globalisierung und Massenkultur unter anderem in den regelmäßig abgehaltenen International Congresses of Aesthetics (ICA) breit diskutiert wird.
Wie kunstfertig, also aus der „Bildung seiner Hände“ heraus, ein heutiger Künstler arbeitet und ob es ihm gelingt, dabei ein eher traditionelles oder eher individuelles Stück herzustellen, entscheidet aus dieser Perspektive so auch darüber, ob das Produkt als freie oder angewandte Kunst, Kunsthandwerk oder schlichter Nutzgegenstand wahrgenommen wird.
Die Freien und die Angewandten
Auf die Frage, ob er sich selbst als freier oder eher als angewandter Künstler sieht, reagiert Axel Russmeyer mit einem Schulterzucken und sagt: ich bin für die Freien zu angewandt und für die Angewandten zu frei, letztlich geht es darum, das Kunsthandwerkliche hinter sich zu lassen. Dabei scheint es ihm eigentlich egal zu sein, mit welchem Label er belegt wird. Dass allerdings das einstige American Craft Museum in New York seit 2002 Museum of Arts and Design heißt, bedrückt ihn schon ein wenig. Das erweiterte Spektrum der Ausstellungen und der Sammlung des MAD machte zwar eine Namensänderung notwendig. Russmeyer beobachtet im Zuge dieser Veränderung allerdings eine abnehmende Wahrnehmung von dem, was im Englischen als Craft bezeichnet wird und für das es im Deutschen kaum eine Entsprechung gibt. Diese schwindende Aufmerksamkeit für die kunstfertige Bearbeitung von Materialien, die eine tiefgehende Kenntnis voraussetzt und von größter Könnerschaft zeugt, schmerzt ihn. Insofern ist er aus tiefster Überzeugung ein angewandter Künstler, der Yanagis Ansatz, dass Freiheit und Lockerheit im Geist aus der Akzeptanz von Grenzen entspringt, verinnerlicht hat.(Yanagi, 1999:53.)
Die formale Strenge der drei Parameter von Russmeyers Perlenkugeln: dem großen Perlenkern, den stets gleichartigen, kleineren Perlen und dem Fadennetz, eröffnet, ganz im Sinne von Yanagi, viele gestalterische Freiheiten, denn die Variationsmöglichkeiten innerhalb der Beschränkung durch diese Parameter sind schlicht unermesslich. Bei der Art und Weise, wie Russmeyer wiederum die einzelnen Perlenkugeln zusammenstellt, spielt er mit Unregelmäßigkeit und Uneinheitlichkeit von Textur, Größe oder Farbe. Es geht ihm also nicht um das dogmatische Einhalten von Regeln. Damit ist für mich gerade das Spiel an und mit der Grenze des Regelhaften das Faszinosum an Axel Russmeyers Arbeiten.
Zum Ende unseres intensiven Gesprächs lege ich das Modell Flitterkram aus Hongkong um und nehme Abends so vollkommen auf die Kugel gekommen, noch den passenden Drink.
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Link zur Webseite von Axel Russmeyer
Literaturhinweise:
Wer tiefer in den Diskurs über die buddhistische Vorstellung von Schönheit und das Verhältnis von Schönheit und Häßlichkeit einsteigen möchte, dem empfehle ich, sich zuallererst das Bild der Tee-Schale auf dieser Webseite anzuschauen: http://eisee.de/yanagi
Im Text beziehe ich mich in diesem Zusammenhang auf Yanagi, Soetsu/Leach, Bernard [Hg.]. 1952/1999, Die buddhistische Vorstellung von Schönheit. In: Die Schönheit der einfachen Dinge : Mingei, japanische Einsichten in die verborgenen Kräfte der Harmonie (engl. Originaltitel The unknown Craftsman, A Japanise Insight into Beauty, 1972), Bergisch Gladbach: 76-126. Hier insbesondere die Passage zum ereignislosen alltäglichen Verstand im Zen-Buddhismus, Seite 94 ff.
Weitere Links und Literatur:
Duggan, Grace, Playing With Perfection, Axel Russmeyer’s pristine and complex spheres are made with glass beads from his immense collection, each piece of jewelry a combination of rigorous technical skill and freewheeling imagination. GLASS Quarterly – Winter 2012-13
Otabe, T., 2016, Intercultural decontextualization and recontextualization in the globalized era: with a special focus on the idea of the „Aesthetic Life“ in modern Japan., Proceedings of ICA 2016 “Aesthetics and Mass Culture” :92-97, hier insbesondere: 94. Unter: http://www.cipsh.net/web/news-212.htm
Sherr Dubin, Lois, 1987/1995, The History of Beads: From 30,000 B.C. to the Present, London.
Wolters, Natascha, 2007, Das große Perlenbuch: fädeln – Sticken – Weben – Stricken, Freiburg im Breisgau.
Yanagi, M., 1982. Bi to Seikatsu (Beauty and Life), Yanagi Muneyoshi Zenshu (Collected Works of Muneyoshi Yanagi), vol. 4, tokyo: chikuma-shobo. (Auf dieses Buch bezieht sich Otabe in dem hier zitierten Text.)
Link zur Perlen und Textilbörse im Museum Europäischer Kulturen in Berlin.
Link zur Geschichte des Museums of Arts and Design, New York (MAD)