Aus 1000 Tüchern: ein mobiles Kolumbarium

Detail der Rolle des Gedenkens. Mit freundlicher Genehmigung von Anna S. Brägger und ©Nihad Nino Pusija

Die Rolle des Gedenkens

 

Eine Textilarbeit, die das Museum Europäischer Kulturen unter dem Titel 1000 Tücher gegen das Vergessen bis zum 26. Juni 2017 ausstellte.

 

Bildschirmfoto der Ausstellungsseite des MEK vom 18.6..2017 mit einer Aufnahme von David Becker © Maja Peltzer

Vor vielen Wochen schon stachen mir die Bilder einer endlos anmutenden Stoffbahn kleiner nebeneinander aufgereihter Stickarbeiten ins Auge, die ich in einer Ankündigung des MEK zugesandt bekam.

Sie waren mit einer Strenge und Akuratesse aneinandergefügt, von der ich mich zugleich abgewiesen und angezogen fühlte und bei denen ich die textile Eigenschaft, biegeschlaff zu hängen, vermisste. Ein guter Freund schließlich befand, ich sollte meinen inneren Widerstand überwinden und endlich hingehen und schauen, was es mit dieser Art der Textilarbeit nun auf sich habe. Und mich machte neugierig, dass es sich bei der Gedenkrolle um eine textile Gemeinschaftsarbeit handelt, die ganz anders angelegt ist, als z.B. das Pussyhat-Projekt oder die öffentliche Nähveranstaltung, die Ibrahim Mahama im Rahmen der Dokumenta 14 dieses Jahr in Athen auf dem Syntagma-Platz veranstaltete.

 

Die Getöteten sichtbar machen

 

Die auch liebevoll ROLA genannte Textilarbeit ist aus der Suche nach einer angemessenen Form des Gedenkens an die Getöteten der Kriege im ehemaligen Jugoslawien der 1990er Jahre enstanden. Bei der Initiative des Berliner Vereins südost Europa Kultur e.V. begegnen sich kriegstraumatisierte Menschen aus dem Balkan, die zunächst auf Stoffbahnen mit dicken Filzstiften die Ortsnamen und dann auch Namen von Menschen schrieben, die vermisst wurden. Sie gingen mit diesen Transparenten zum Berliner Wittenbergplatz und hielten sie im Kreis stehend – quasi als Mahnmal – hoch. Mit dieser Aktion artikulierte sich einerseits das Bedürfnis nach Sichtbarmachung der bis heute zum Teil nicht gefundenen und identifizierten getöten Menschen. Andererseits entwickelte sich aus der noch relativ unbestimmten Idee der Transparente die Gedenkrolle. Heute ist die ROLA für Viele auch zu dem Ort geworden, an dem sie um ihre Toten trauern können.

 

Gemeinsam an der Gedenkrolle sticken

 

Ich besuchte eine Stick-Runde, die Textilkünstlerin Anna S. Brägger in den Räumen der Ausstellung bis zum 26.6.17 regelmäßig veranstaltete. Zwei weitere Teilnehmerinnen, ich und die Künstlerin und Leiterin des Projekts, saßen hier nachdenklich in unsere Handarbeit versunken um einen kleinen Tisch und ließen die Gespräche sich entspinnen.

Zuerst jedoch nahm ich aus der bereitgestellten Kommode ein Taschentuch, griff mir eine Nadel aus meinem Handarbeitskästchen und fragte, worauf ich achten sollte: eigentlich auf garnichts, hieß es. Später stellte ich fest, dass es zwar keine Beschränkungen in der Art gibt, wie das Tuch gestaltet werden soll. Einzig, dass das Viereck in die Rola auf der Spitze stehend eingearbeitet wird und die Gestaltung darauf ausgerichtet werden sollte, die Schrift nicht parallel zum Saum des Taschentuches verlaufen zu lassen. Da hatte ich meine allerdings schon genau dort aufgebracht. Aber was soll’s? Wichtig war der Schritt, den Namen des getöteten Mannes, der, als man ihn umbrachte, gerade 20 Jahre alt geworden war,  überhaupt zu den Ornamenten, die ich bereits gestickt hatte, hinzuzusticken.

 

Meine Stickarbeit, Stand 18.4.2017. © Maja Peltzer

 

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Sticken wird zur Trauerarbeit

 

Stich für Stich arbeitete ich seinen Namen in das Gewebe des Taschentuches ein und es fühlte sich an, als würde ich ihm mit jedem Nadelzug näher kommen. Mein Mann, der mich bei der Arbeit an der Stickerei, die ich inzwischen zu Hause fortsetzte, fand, wunderte sich. Ich erzählte ihm, dass ich für mein besticktes Taschentuch aus einem Buch der Opfer einen der getöten Menschen ausgesucht hatte. Ich zeigte ihm das Foto, das ich mit meinem Handy von meinem Auserwählten, seinem Namen, dem Geburts- und Todesdatum und -ort gemacht hatte. Wir schauten uns das Foto des jungen Mannes an, unser 16-jähriger Sohn kam dazu und im gemeinsamen Betrachten erfüllten Trauer und Ohnmacht den Raum. Viele Fragen kamen auf: wer war er, warum musste er sterben, lebt seine Familie noch, würden wir seine Spur verfolgen, auf welcher Seite der Kriegsparteien mag er gestanden haben? Ohne Antworten, aber mit der Gewissheit, für einen Toten und dessen Angehörige einen Ort der Trauer mit zu gestalten, setzte ich meine Arbeit fort. Vergessen werden meine Familie und ich den Moment der Nähe zu diesem Fremden sicher nie.

 

Der Ort der Stiche

 

Teil des Rahmenprogramms der Ausstellung war auch das Künstlergespräch, Ein Mahnmal – weshalb? bei dem die Künstlerin und Leiterin des Projekts Anna S. Brägger und die begleitende Psychologin Rahel Fink ihre Arbeit mit der Trauergruppe reflektierten. Eine Arbeit, die mit den Transparenten am Wittenbergplatz ihren Anfang nahm und jetzt im Museum Europäischer Kulturen Station macht.

Links: Anna S. Brägger, rechts: Rahel Fink. Eine Aufnahme der Veranstaltung am 19.4.2017 in den Räumen der Ausstellung 1000 Tücher gegen das Vergessen im Museum Eurpäische Kulturen der Staatlichen Museen zu Berlin. Mit freundlicher Genehmigung der SMB © Maja Peltzer

Im Gespräch erzählte Frau Brägger, wie sie das Taschentuch als Basis für das Gemeinschaftsprojekt gefunden hat. Sie suchte etwas mit einer groben Norm, das sich in die ganze Welt verschicken liesse. Schließlich wurde sie darauf aufmerksam, dass in den südosteuropäischen Ländern einfach jeder ein Taschentuch bei sich trägt. In diesem Kulturkreis dient es nicht nur zum Trocknen von Freuden- oder Trauertränen, sondern wird von Paaren auch beim Spazierengehen benutzt: ohne dass sich ihre Hände berühren würden, halten sie sich traditionellerweise an einem Taschentuch fest. Damit war der adäquate Träger für die Stickarbeiten gefunden und die Arbeit an der Gedenkrolle konnte zugleich eine versöhnliche Brücke zur Heimat bilden. Hinzu kommt, dass Handarbeit als heilsame Trauerarbeit eine lange Tradition hat und es zeigte sich, dass mit ihr Stich für Stich die Abwesenheit in die Realität geholt wird und durch den Ort der Stiche ein Äquivalent zu einem Grabstein entstehen kann. Zudem erzählte die Künstlerin, dass ihr im Laufe der Zeit die Aufgabe zufiel, die Einzelteile zusammenzufügen und Frau Fink ergänzte, es sei, als würde eine Weberin Schuss und Kette miteinander verbinden und dadurch etwas Festgefügtes – ein Gewebe – entstehen lassen.

 

Gedenk-Kunst ?

 

Für diese Arbeit hatte Anna S. Brägger Freunde um Mithilfe gebeten, die allerdings angesichts der Stapel von Tüchern und der daraus sich ergebenden emotionalen Last kapitulierten. Die an die 20qm großen Stoffbahnen unter der Nähmaschine zu bewegen, habe dann, so die Künstlerin, auch einer Stoffbändigung geglichen, bei der sich eine Verwandlung des Projekts des Gedenkens vollzog. Aus den einzelner Menschen gedenkenden Tüchern wurde im wahrsten Sinne etwas Größeres.

Sollte das Besticken der Tücher zuallerst die Trauernden unterstützen, bekamen die Tücher durch ihre Verbindung zur ROLA eine übergeordnete Funktion. Sie wurden zu den „Bausteinen“ eines Mahnmals zum Gedenken der Opfer der Jugoslawienkriege. Die Künstlerin selbst betont, dass dieses Mahnmal kein Kunstwerk sei, sondern ein Gedenkprojekt, das mit künstlerischen Mitteln gestaltet ist.

Das mobile Kolumbarium

 

Die in alle Welt geflüchteten Familien sollen im Rahmen von Ausstellungen an den Orten ihrer neuen Bleibe die Möglichkeit bekommen, ihrer Angehörigen zu gedenken und Zeugnis abzulegen über die verheerende Realität des Genozids in Jugoslawien. So wurde die ROLA ein mobiles Kolumbarium, das auf Reisen geht und gegen den Krieg aufruft. Sie begann als Flüchtlingsprojekt und konnte als internationales Projekt in Berlin keinen angemesseneren Ausstellungsort als das Museum Europäischer Kulturen finden.

 

 

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