Der ausgewanderte Stich

Textile Skulpturen von Carla Romero

 

Nr. Uno de Cinco, Carla Romero, 2012 ©Maja Peltzer

Unweit der Kastanienalle im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg wohnt die Bildhauerin und Romanistikstudentin Carla Romero. Geboren in der peruanischen Hauptstadt Lima, machte sie 2012 ihren Bachelor an der Kunsthochschule in Caracas. Nachdem sie die Jahre von 1989 bis 2013 in der Megacity Venezuelas verbrachte, wurde Berlin ab 2014 zu ihrem Lebensmittelpunkt. Massive Textil-Skulpturen in Venezuela zurücklassend, kam sie mit einem Koffer voller falt- und pressbarer Textil-Arbeiten, Stoffe, Zeichnungen und Fotografien in Deutschland an. Ausgerüstet mit diesem Minimalgepäck einer eingewanderten Bildhauerin, treibt sie den Schaffensprozess in der Berliner Wohnung auch auf kleinem Raum kontinuierlich voran. Der guten Transportabilität des textilen und digitalen Mediums ist es dabei zu verdanken, dass ihr die Rückbindung an vergangene Arbeiten aus Venezuela gelingt. Ihren Fokus richtet Romero auf Skulpturen aus weichen Materialien und auf graphische Arbeiten, in denen sie Papier näht oder Tafelbilder aus Stoff macht.

 

Soft Art: unmittelbare Körperlichkeit

 

Mit dem Austesten unterschiedlicher Materialien und insbesondere durch die Auseinandersetzung mit Textilem und Schaumstoff ist Romero in die als SOFT-ART bezeichnete Kunstströmung eingeschrieben. Unter SOFT-ART werden seit den 1960er Jahren künstlerische Arbeiten zusammengefasst, in denen weiche Werkstoffe wie Filz, Stoff, Garn, Haare sowie Latex und Gummi als Materialien zum Einsatz kommen. Die auch als Gegenkultur bezeichnete SOFT-ART-Bewegung entstand in der Nachkriegszeit und brach mit althergebrachten Vorstellungen von Kunst und Schönheit. Ausstellungen der weichen Kunst präsentierten Skulpturen, die auf dem Boden oder an den Wänden zerflossen, flach am Boden und in der Ecke lagen, von der Decke hingen und somit alle den Kunstgegenstand zelebrierenden Präsentationsformen verliessen.

 

Neue Sinnlichkeit

 

Künstlerisches Vorbild von Romero ist die Grande Dame der Weichen Skulptur Louise Bourgeois, von der Kritikerin Lucy R. Lippard sagt, ihr gelänge es, die über das Auge emfangenen Reize so über das Gehirn zu leiten, dass sie den Betrachter stark körperlich reagieren ließen.

Bourgeois, Louise, 1996, Untitled. Link zu einer Skulptur, die in der Ausstellung Leben? Biomorphe Formen der Skulptur im Universalmuseum Joanneum gezeigt wurde. Stoff; 22.8 x 60.9 x 30.4 cm Holz und Glasvitrine; 180 x 60.9 x 91.4 cm Courtesy Cheim & Read, Galerie Karsten Greve, and Hauser & Wirth. Foto: Allan Finkelman

Die Sinne wiederzubeleben und mehr zu sehen, zu hören und zu fühlen, war so auch zu einem Diktum der Kunst geworden, reflektierte Susan Sontag in den 60er Jahren. Und über die Bildhauerei dieser Zeit spricht auch Rosalinde Krauss von einer Sinnlichkeit, die vor allem im Kontext der Befreieung von historischen Formen der Darstellung zu verstehen sei. Heutige Kunsthistoriker schließlich beschreiben die ge- oder übersteigerte Sinnlichkeit im Nachhineien als Strategie gesellschaftlichen Widerstands. Denn die Befreiung von der konventionellen Form der Skulptur wurde als Befreieung von gesellschaftlicher Repression und als Hinwendung zu einem mentalen Raum verstanden, einem Raum, in dem die Begegnung von Betrachter und Kunstwerk im Vordergrund steht. Dabei blieb ein Großteil der frühen SOFT-ART dem Abstrakten Expressionismus verschrieben. Louise Bourgeois hingegen ist eine wichtige Vertreterin jener Strömung der SOFT-ART, mit der die Wahrnehmung von Alltagsgegenständen und das physische Erleben in den Vordergrund rückt.

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SOFT-SCULPTURE  NOW

 

Birgit Dieker und Anette Messager sind etablierte Textilkünstler(innen) der Gegenwart, die wie Carla Romero in ihrer Arbeit an diese Strömung der Skulptur anknüpfen und sie weiter entwickeln. Es entstehen Skulpturen aus Werkstoffen, die kaum einem klassischen Ideal bildhauerischen Materials entsprechen und Körpersysteme veranschaulichen, ohne wissenschaftlich-medizinische Zwecke zu verfolgen. Vielmehr gelingt es ihnen, der körperbezogenen Wahrnehmung durch die Verfremdung körperlich-figurativer Motive zusätzliche Dimensionen hinzuzufügen.

Birgit Dieker, Ei Ei Ei, 2010, Kleidung, Draht, Foto: Jürgen Baumann

Biomorphe Formen

 

Carla Romero, 2016, Im Entstehungsprozess, Atelieraufnahme ©Maja Peltzer

In biomorphen Formen der Skulptur, also in Formen, die lebenden Wesen ähneln, findet das Textil als künstlerisches Medium so auch zunehmend Verwendung. Es assoziiert sich gleichermaßen zu Kleidung und zu Haut und besitzt die Eigenschaft, zwischen Kleidung im Sinne einer zweite Haut und der organischen Haut zu oszillieren.

Carla Romero, 2016, Razones de la serie No Enviados ©Maja Peltzer

Die Arbeiten Romeros evozieren Haut und die Introspektion des menschlichen Körpers, der geöffnet wurde und den Blick des Betrachters auf ein weniger anatomisch exaktes als auf ein gefühltes Körperinneres lenkt. Ihre skulpturalen Strukturen ähneln lebenden Organen und grob zusammengehaltener Haut und fordern konventionelle Vorstellungen von Schönheit heraus. Das Textil als das auf dem Körper getragene Material und die Stiche des Fadens heben dabei die Zartheit und Zerbrechlichkeit der inneren Organe hervor.

Der ausgewanderte Stich

 

An der Verwendung von Stoffen und Garnen sowie Schaumstoff interessiert Romero so auch das Emphatische, die Möglichkeit, den Betrachter direkt und spontan auf seinen eigenen Körper zu verweisen. Charakteristikum ihrer textilen Arbeiten ist die Feston- oder auch Langettenstich genannte Fadenführung, mit der sie die Oberfläche des Objekts struktuiert. Wird der Festonstich in der Schneiderei u.a. zum Umstechen von Knopflöchern eingesetzt, scheint er auszuwandern aus seinem konventionellen Einsatzbereich. Er ist befreit von der nach Unauffälligkeit strebenden Präzision einer auf Tragbarkeit ausgerichteten Textilverarbeitung und überschreitet die Grenze der Nützlichkeit hin zum künstlerischen Material. In losem, schlampig anmutendem Rhythmus und stets mit schwarzem Garn wandert er stickend, spannend und zurrend über die Texturen, wobei Romero die so von ihr bearbeiteten Werkstoffe  modeliert.

 

Atelieraufnahme. 2016, Arbeit im Entstehungssprozess: ein dem Herz ähnliches Gebilde aus Schaumstoff mit Schichten von weiß-, rot- und lilafarbenen Stoffen überzogen, mit groben Stichen zusammengehalten und in ein Kissen der selben Machart eingesetzt, ©Maja Peltzer

Kunst(er)leben

 

Romeros Arbeit Apariciones (Erscheinungen) von 2012 besteht aus Objekten, die in Form von verfremdeten Körper- und Fleischstücken, gleich Sitzgelegenheiten im Raum verteilt liegen. Obwohl die einzelnen Objekte an fragmentierte Lebewesen und Organe erinnern, seien sie, so Romero, fiktiv, in der Machart bewußt unperfekt und somit keine Abbildungen real existierender organischer Strukturen. Sie befrage das Material vielmehr mit einer Art wissenschaftlicher Neugier nach dem, was außerhalb der Realität liegt. Indem sie die Hautgrenze überschreitet, versuche sie, ein Unbekanntes sichtbar zu machen und die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was dem Blick sonst verschlossen bleibt.

Apariciones, Ausstellungansicht, Carla Romero, 2012. Mit freundlicher Genehmigung von ©Carla Romero

Die Reaktion auf die 2012 in Venezuela stattfindende Ausstellung mit den großen Skulpturen habe sie seinerzeit mit Spannung erwartet. Nach einigem Zögern, so erzählt Romero, näherten sich die Besucher den Objekten und waren sichtlich bewegt. Zunächst berüherten sie die Gegenstände behutsam und nach einiger Zeit ließen sie sich in nachdenklich betrachtender Haltung darauf nieder. Auch die Kinder, so Romero, schauten sich die Skulpturen eingehend an und spielten und purzelten schließlich auf ihnen herum. Währenddessen entspannen sich Gespräche darüber, wie die Situation erlebt wurde.

Ausstellungsansicht Apariciones, 2012. Mit freundlicher Genehmigung von ©Carla Romero

Mit den Apariciones habe sie, so Romero im Nachgang, Räume inszeniert, in denen ihre Arbeit durch Berührung und Benutzung für den Betrachter erfahrbar werden. Räume zu gestalten, die das Gespräch über Kunst, über deren Grenzen und Überschreitungen anregen, ist ein Anliegen, dem Carla Romero neben dem Einsatz des textilen Mediums nachgeht.

 

 

Carla Romero im Gespräch mit einer Ausstellungsbesucherin, Venezolanische Botschaft Hamburg, 2016 ©Maja Peltzer

 

Torheiten

 

 

Carla Romero, Encolpiúm suave (Weiche Reliquienkapsel), Detail, 2016 ©Maja Peltzer

 

Auf ihrer Ausstellung desatinos (Torheiten) im Mai 2016 in der Venezolanischen Botschaft Hamburgs zeigte sie u.a. Encolpiúm suave (Weiche Reliquienkapsel), eine Skulptur, die sich nur widerständig in die repräsentativen Räumlichkeiten einfügte. Deplaziert wirkend stand sie einem Fleischklumpen gleich auf einer von Drapage umgebenen Stange. Aus der Entfernung betrachtet, sah sie wie ein Wesen aus, das sich sein feinstes Gewand umgelegt hat, um dann schüchtern und mit verdrehtem Blick den piekfeinen Kronleuchter über sich zu mustern. Erst beim näheren Hinschauen, offenbart sich, dass die Skulptur verfremdete Organe darstellt.

 

Encolpiúm suave (Weiche Reliquienkapsel), Carla Romero, Venezolanischen Botschaft, Hamburg im Mai 2016©Maja Peltzer

Kunst und Migration

Carla Romero ist ein Beispiel dafür, wie eine Einwanderin in Deutschland das Kunstmachen und -ausstellen lebt. Romeros erste Ausstellung in Deutschland fand 2014 auf der Textile Art Berlin-Messe statt, auf der neben dem regulären Verkaufsbetrieb Raum zum Ausstellen von textiler Kunst geschaffen worden war. Hier trugen Romeros Arbeiten zu dem Bruch mit dem Klischée des braven Hausmütterchens, das dem textilen Arbeiten anhaftet, bei und zeigten, wie breit das Spektrum der textilen Kunst ist. Indem sie das Kunstwerk aus dem White Cube holt und damit neue Räume des Kunsterlebens schafft sowie gattungsüberschreitende Werkstoffe für ihre bildnerischen Arbeiten nutzt, schafft Romero transitorische Momente, die auf ihre zukünftige Entwicklung neugierig machen. Bewunderungswürdig ist die Beharrlichkeit, mit der sie ihren Weg geht und quasi im Vorbeigehen gegebene und etablierte Verhältnisse (auf-)bricht.

Zu CARLA ROMEROS Website

 

 

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Mein besonderer Dank gilt Natascha Wolters, der Leiterein der TEXTILE ART BERLIN. Sie machte mich auf Carla Romero aufmerksam.

Zitierte Literatur:

Krauss, Rosalinde, 1973, Sense and Sensibility, Reflection on Post ’60s Sculpture, Artforum International, Denville, NewYork.

Lippard, Lucy, 1966, Eccentric Abstraction. New York: Fischbach Gallery. Neudruck in: Armstrong, Richard, 1990, The new sculpture : 1965-75: between geometry and gesture ; [catalog of an exhibition held at Whitney Museum of American Art, from Febuary 20 through June 3, 1990], New York :54-58.

Sontag, Susan, 1964, Against Interpretation, dt. in Kunst und Antikunst, 1968, Hamburg: 9-18.